Olympos
Garlion-Knoten. Die Legenden behaupt e ten, dass genau dort, wo sich jetzt der Nordrand des Kraters b e fand, ein riesiges Gebäude namens Luv – oder manchmal »der Lover« – zusammen mit dem Ausreißer-Loch in den Erdmitte l punkt hinabgesaugt worden sei und dabei eine Menge Altme n schen-»Kunst« mitg e nommen habe. Da Daeman noch nie anderer »Kunst« begegnet war als diesen paar »Statuen«, konnte er sich nicht vorstellen, dass der Verlust des Luv viel ausmachte, wenn alles darin so blöd gewesen war wie die tanzenden nackten Mä n ner in der nunmehr hinter ihm liegenden Avenue-Daumesnil-Spalte.
Von der einen offenen Spalte aus, die zur Île St. Louis und zur Île de la Cité führte, konnte Daeman nichts sehen. Deshalb ve r brachte er fast eine ganze Stunde damit, eine Eiswand hinaufz u steigen – er hackte mühevoll Tritte ins Eis, trieb schwere Bo l zen hinein, um die er sein Seil schlingen konnte, und hing hä u fig an einem oder beiden Eishämmern, bis ihm der Schweiß aus den Augen gelaufen und sein klopfendes Herz wieder langsamer g e worden war. Ein Gutes hatte die unglaubliche Anstre n gung des Aufstiegs jedenfalls – ihm war nicht mehr kalt.
Er kam genau beim ehemaligen westlichen Ende der Île de la C i té oben auf der Blaueis-Kruste über der Stadt heraus. Das Eis war hier um die dreißig Meter dick, und Daeman hatte erwa r tet, in westlicher Richtung jenseits des Kraters zumindest den obersten Rand der gewohnten Stadtsilhouette zu sehen – die hohen Domi-Türme aus Buckyspitze und Bambus-Drei um den Krater herum, den Turm seiner Mutter genau gegenüber, und weiter westlich die dreihundert Meter hohe La putain énorme, die riesige nackte Frau aus Eisen und Polymerisaten. Eine Statue, nur eine große St a tue, dachte er jetzt, aber früher kannte ich das Wort nicht.
Nichts von alledem war zu sehen. Direkt vor Daeman, der nach Westen schaute, erhob sich eine riesige Kuppel aus org a nischem blauem Eis mindestens sechshundert Meter hoch über die alte Stadt. Nur Ecken, Ränder, Schatten und hin und wieder eine he r vorstehende Terrasse ließen erkennen, wo der Ring einstmals stolzer Türme den Krater umgeben hatte. Das hohe Domi seiner Mutter war nicht zu sehen. Die putain weiter westlich ebenso w e nig. Außer der riesigen blauen Kuppel selbst, die das mittlerweile schon spätabendliche Licht sowohl blockierte als auch absorbierte, erhob sich in dem Gebiet um den Krater herum nun eine Masse luftiger Eistürme, Strebebögen, kompl e xer Mosaikstrukturen und über hundert Stockwerke hoher blauer Eisstalagmiten. All diese hoch aufragenden Türme und Ausbuchtungen um die Kuppel herum waren in der Luft durch Netze aus blauem Eis verbunden, die zart wirkten, jedoch – wie Daeman erkannte – alle einen gr ö ßeren Durchmesser haben mussten als jeder der breiten Boul e vards der Stadt. Alles gli t zerte im satten Licht der tief stehenden Sonne, und in den Tü r men, den Netzen und der Kuppel selbst schienen sich winzige blinkende und blitzende Lichter zu bew e gen.
»Heilige Mutter Gottes«, flüsterte Daeman.
Die leuchtenden Eistürme, die sich sechzig, achtzig oder hu n dert Stockwerke hoch über die niedrigere Eiskappe auf der a l ten Stadt erhoben, waren schon so eindrucksvoll, dass es einem den H o densack zusammenzog, aber die Kuppel selbst war am imposa n testen.
Mindestens zweihundert Stockwerke hoch – Daeman konnte i h re Höhe und ihre schwindelerregende Masse nur anhand der a l ten Domi-Türme beurteilen, die schemenhaft tief unten an der Flanke der Kuppel zu sehen waren –, erstreckte sie sich mit e i nem Radius von über anderthalb Kilometern von seiner Posit i on hier auf der Île de la Cité südlich zu der riesigen Müllhalde, die seine Mutter Jardins de Luxembourg genannt hatte, nör d lich über die Rasenfläche namens Boulevard Haussmann hi n weg, wo sie den Domi-Turm bei der Gare St. Lazare umhüllte, in dem der letzte Liebhaber seiner Mutter gewohnt hatte, und dann westlich fast bis zu den Champs de Mars, wo man immer die breitbeinige putain sah. Heute allerdings nicht. Die Kuppel versperrte sogar den Blick auf eine dreihundert Meter hohe Frau.
Wenn ich zum Invalidenhotel-Knoten gefaxt wäre, wäre ich in der Kuppel gelandet, dachte er.
Bei diesem Gedanken schlug sein Herz noch heftiger als bei dem Aufstieg am Eis, doch dann kamen ihm rasch hintereina n der zwei noch erschreckendere Gedanken.
Der erste war: Setebos hat dieses Ding über dem Krater gebaut. Das war
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