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Olympos

Titel: Olympos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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jetzt als solche.
     
    SAGI
    MYUNEZ
    YANOWSKI
    1991
     
    Daeman hatte nie lesen gelernt, aber aus purer Gewohnheit le g te er die mit Thermohaut überzogene Hand auf den kalten Stein und rief das mentale Bild von fünf blauen Dreiecken in einer Reihe auf. Nichts. Er musste über sich selbst lachen – Stein konnte man nicht sigln, nur Bücher, und obendrein auch nur bestimmte B ü cher. Außerdem, würde die Sigl-Funktion durch molekulare Thermohaut funktionieren? Er hatte nicht die g e ringste Ahnung.
    Daeman konnte jedoch die Ziffern lesen. Eins-neun-neun-eins. Einen so hohen Faxknoten-Code gab es nicht. War es vielleicht eine Erklärung für die Statuen? Oder ein alter Versuch, die Fig u ren besser in der Zeit festzuhalten, so wie die menschlichen Ebe n bilder im Stein festgehalten waren? Wie zählte man die Zeit? D a eman versuchte einen Moment lang, sich vorzustellen, wofür eins-neun-neun-eins als Jahreszahl stehen mochte … die Jahre seit der Herrschaft eines alten Königs, wie Agamemnon oder Priamos im Turin-Drama? Vielleicht gehörte es aber auch zu der Art, wie der Künstler, von dem diese verwirrenden Statuen stammten – oder war es eine Künstlerin? –, seine oder ihre Identität bekannt gab. War es möglich, dass sich die Menschen des Untergegangenen Zeitalters durch Ziffern statt durch N a men identifizierten?
    Daeman schüttelte den Kopf und verließ die Blaueis-Grotte. Er verschwendete seine Zeit, und all diese Dinge – diese G e bäude und »Statuen«, die begraben hätten bleiben sollen, diese Geda n ken an Menschen, die anders waren als jene, die er seit jeher kan n te, an jemanden, der der Zeit selbst einen numerischen Wert z u zuschreiben versuchte – waren ebenso fremdartig und beunruh i gend für ihn wie die Erinnerung an Setebos, der durch das Loch kam, ein geschwollenes, körperloses Gehirn, getragen von dahi n huschenden Ratten.
     
    Wenn er Caliban und Setebos finden – oder sich von ihnen fi n den lassen – würde, dann in dieser Kuppelkathedrale.
    Es war natürlich keine richtige Kathedrale – Daeman kannte di e ses Wort, »Kathedrale«, erst seit ein paar Monaten, seit er es in einem von Harmans Büchern gesiglt hatte, aus dem er viele Wö r ter gelernt hatte, wenn auch meist, ohne ihre Bedeutung zu ve r stehen –, aber das Innere dieser riesigen Kuppel kam D a emans Vorstellung von einer Kathedrale sehr nahe. Allerdings hatte in der Stadt, die nun Paris-Krater hieß, mit Sicherheit noch nie eine derartige Kathedrale gestanden.
    Es war nach Einbruch der Dunkelheit. Zuvor war er im hellen Tageslicht den grünen Schlitz der Promenade Plantée am Av e nue-Daumesnil-Graben entlanggegangen, bis dieser in einer Eismasse endete, die er für Oprabastel hielt. Obwohl die Spalte sich über ihm geschlossen hatte, folgte er einem Tunnel, ve r mutlich entlang der Rude Lyon, zur Bastille-Kreuzung. Hier mündeten weitere Tunnels und offene, schmale Spalten – in einer konnte er beide Eiswände zugleich berühren, wenn er die Arme ausstreckte –, die linkerhand zur Seine führten.
    Schon seit Daemans Geburt – und so lange die Einwohner von Paris-Krater zurückdenken konnten – war die Seine ausg e trocknet und mit menschlichen Schädeln gepflastert. Niemand wusste, was es mit den Schädeln auf sich hatte, nur, dass sie schon immer dort gewesen waren – von jeder der vielen Br ü cken, die man in einer Droschke, Kalesche oder Karriole übe r querte, sahen sie wie weiße und braune Pflastersteine aus –, und niemand aus Daemans U m feld hatte sich je gefragt, wohin das Wasser im Fluss verschwu n den war, weil der kilometergroße Krater das alte Flussbett durc h schnitt. Jetzt säumten noch mehr Schädel – Schädel, die erst kür z lich aus lebenden mensc h lichen Körpern befreit worden waren – die Wände der Spalte, der er in Richtung zur Île de la Cité und dem Ostrand des Kr a ters folgte.
    Den wenigen in einer weitgehend geschichtslosen Kultur o h ne mündliche oder andere Überlieferungen erhalten gebliebenen L e genden zufolge war Paris-Krater vor über zwei Jahrta u senden zu seinem Krater gekommen, als die Nachmenschen die Kontrolle über ein winziges schwarzes Loch, erschaffen im Ve r lauf einer Vorführung an einem Ort namens Institut de France, verloren ha t ten. Das Loch hatte sich mehrmals durch den Erdmittelpunkt g e bohrt, aber nur einen einzigen Krater an der Oberfläche des Plan e ten hinterlassen, und zwar genau hier zwischen dem Invalidenh o tel-Faxknoten und dem

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