Oma 04 - Omas Erdbeerparadies
rot-weiß-braunen Aufkleber des FC St. Pauli geklebt. Im oberen Stockwerk führte ein langer Flur zur Küche, links und rechts davon gingen die kleinen Zimmer ab, alle mit Dachschräge. Oma stützte sich auf ihren Rollator, der anscheinend immer oben bereitstand, und zeigte ihr die einzelnen Räume.
«Typisches Arne-Design», bemerkte Jade. Ihre Oma nickte zustimmend. Arnes Wohnung unterschied sich optisch eigentlich kaum vom Tanzsaal. Er hatte auf Flohmärkten einfach alles wild zusammengekauft, was ihm in die Finger kam, Nähmaschinen, Milchkannen, Stallfenster, alte Truhen und Kommoden.
Im Wohnzimmer stand ein Wäscheständer mit Arnes Sachen und Omas neonfarbenen T-Shirts, im Badezimmer gab es eine riesige Wanne. Ein weiteres Zimmer war vollgestellt mit akustischen und E-Gitarren, hier schlief Arne auf einem Futon. Am Kopfende standen drei dicke Kirchenkerzen, die bestimmt einen Meter hoch waren.
Oma schlief in Arnes Schlafzimmer unter einem Riesenposter von Jimi Hendrix. Schritt für Schritt führte Jade sie zu dem riesigen Wasserbett, zog ihr die Schuhe aus und ließ sich dann spontan auf eine Seite des Bettes plumpsen, was eine heftige Wellenbewegung auslöste. Oma kicherte leise und ließ sich auf die andere Seite sinken, was die Wellen noch höher trieb. Es fühlte sich an, als schwämmen sie auf einer Luftmatratze übers offene Meer.
«Wie cool ist das denn?», juchzte Jade, als sie die Riesenglotze mit Dolby-Surround entdeckte, die vor dem Bett aufgebaut war.
AUS MEINER WG, schrieb Oma auf ihren Block.
Welche Oma sonst konnte so einen Satz wohl sagen?
«Kinoabend?», schlug Jade vor.
Oma lächelte und nickte.
«Was gucken wir?», fragte Jade.
Es war ihr nach diesem Tag vollkommen egal, Hauptsache, auf dem Bildschirm flimmerte irgendetwas. Oma deutete auf eine DVD, die vor dem Fernseher lag.
«‹Pretty Woman›? Kenne ich nicht.»
Sie warf die DVD ein und legte sich neben Oma. Imke roch angenehm nach der Babycreme, mit der sie sich gerade das Gesicht eingeölt hatte. Dabei hatte sie ein bisschen zu viel des Guten getan, Jade nahm ein Taschentuch und tupfte etwas überschüssige Creme ab. Dann nahm Oma ihren Block vom Nachttisch, malte einen Smiley und deutete auf sie. Jade umarmte ihre Oma gerührt und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange. Dann drückte Oma auf die Fernbedienung. Während des Vorspanns schrieb sie als Warnung «VORSICHT, KITSCH!» auf ihren Block.
«Genau das brauche ich jetzt.» Jade lachte.
«Pretty Woman» kam Jade etwas angestaubt vor, was kein Wunder war: Der Film stammte aus dem Jahr 1990, zwei Jahre vor ihrer Geburt. Richard Gere war nicht ganz ihr Fall, er war einfach zu alt für sie, aber Julia Roberts fand sie hinreißend, dieses Lächeln, diese Natürlichkeit! Oma war offenbar ein Riesenfan des Films und schrieb auf ihren Block, dass sie ihn zum 53. Mal sah. Jade konnte das kaum glauben, allerdings hatte sie «Twilight» auch zwölfmal gesehen, was nur ihre beste Freundin Vanessa wusste.
Als der Film zu Ende war, waren sie beide noch hellwach, und Jade warf als Nächstes «Fluch der Karibik» ein. Sie schauten bis zwei Uhr nachts und quietschten vor Vergnügen. Nur das Ende bekam Jade nicht mehr mit, weil sie vorher selig weggedämmert war.
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7.
Warme Milch mit Honig
Die nahegelegene mächtige Nicolaikirche weckte sie mit behäbigen Glockenschlägen. Jade hatte so tief geschlafen wie lange nicht mehr und war noch ganz fertig von der Abschlussprüfung, durch die sie im Traum gefallen war, und zwar im wörtlichen Sinne: Der Boden im Chemiesaal hatte sich einen Spalt unter ihr geöffnet, und sie war haltlos in die Tiefe gestürzt. Kurz bevor sie ohnmächtig wurde, kam sie auf dem Pflaster der Straße auf, in der sie aufgewachsen war. Dort musste sie die Prüfung wiederholen und fiel erneut durch …
Sie streckte sich im Wasserbett aus, in dem sie nach der Filmsession eingeschlafen war. Sieben Glockenschläge hatte sie gehört – das war eigentlich viel zu früh zum Aufstehen! Es roch immer noch nach Omas Babycreme, unwillkürlich blickte sie auf die andere Seite des Bettes, aber die war leer. Oma war also schon aufgestanden. Jade konnte es kaum glauben, aber sie war wirklich auf Föhr. Draußen schien die Sonne, bestes Strandwetter – also nichts wie raus aus den Federn!
Gähnend schlurfte sie über den kahlen, engen Flur in die Küche, wo Arne mit Oma bereits am Frühstückstisch saß. Imke trug einen roten Pyjama und darüber
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