Oma 04 - Omas Erdbeerparadies
fröhlich zu bleiben? Gab es da einen Trick?
Als sie nach weiteren Fotos ganz unten im Karton wühlte, stieß sie auf etwas Hartes. Sie holte eine Tonbandspule hervor. Auf dem weißen Etikett stand in altertümlicher Schrift mit Bleistift geschrieben: «Erdbeerparadies 1960».
Sie beschloss, das Tonband an sich zu nehmen. Oma würde sich bestimmt freuen, die Aufnahme zu hören, womöglich war sie selbst drauf. Jade musste nur noch ein Tonbandgerät aufstöbern. Arne hatte bestimmt keines, aber Momme vielleicht. Der hatte ihr erzählt, dass er alte technische Musikgeräte sammelte. Wenn er eines hätte, könnte er ihr das Band bestimmt überspielen.
Also steckte sie die Spule in ihre hellblaue LKW-Planentasche und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Midlum, um Paul abzuholen. Barni hatte am Morgen angerufen und gesagt, dass das Auto fertig repariert auf seinem Hof stand.
Ein starker Gegenwind blies ihr entgegen, aber schon bald begann sie, die Strecke zu genießen. Rechts von ihr lag die offene Marsch, links standen wunderschöne alte Reetdachhäuser. Das schönste Wegstück war die Allee der windschiefen Bäume hinter Oevenum, die der Westwind Richtung Osten gedrückt hatte.
Barni wohnte direkt neben dem Schrottplatz, den er hinter seinem Haus im Garten eingerichtet hatte. Er war leider nicht da. Ein paar Autowracks lagen neben einem riesigen ungeordneten Haufen Auspufftöpfe, Außenspiegel und Seitentüren verschiedenster Modelle herum. Alles moderte mehr oder weniger unter freiem Himmel vor sich hin. Nur ihr Paul leuchtete wie eine exotische Blume in knalligem Orange in der Sonne! Er war sogar gewaschen und poliert – als wäre er gerade frisch vom Band gerollt.
Sie strich um ihren Wagen herum. Es war unglaublich, Barni hatte sogar kleine Lackschäden und Beulen liebevoll ausgebessert. Der Schlüssel steckte. Sie setzte sich hinein und startete den Motor. Er brabbelte und röhrte wieder, wie ein Käfermotor brabbeln und röhren muss – für sie hörte es sich an wie Musik! Auch das Radio lief wieder. Sie steckte Barni einen Zettel in den Briefkasten, warf die Tasche mit dem Tonband auf den Beifahrersitz und fuhr vom Hof. Es tat so gut, wieder den vertrauten Käfer-Innengeruch in der Nase zu haben, der sich mit der salzigen Seeluft mischte. Mit dem Zeigefinger streichelte sie die kleine Vase mit der Plastikblume am Armaturenbrett. Auf solche charmanten Ideen kamen Autobauer von heute nicht mehr.
Um zu Mommes Haus zu gelangen, musste sie den ersten Weg quer durch die Marsch nehmen, die gleich hinter Midlum begann. Um sich Mut zu machen, drehte sie die Anlage voll auf. Über die Boxen dröhnte der Allzeit-Oldie «It’s Raining Men», den sie laut mitsang. Mit Höchstgeschwindigkeit bretterte sie über die schmalen Wirtschaftswege. Der heftige Westwind drückte den Wagen zur Seite, sodass sie mit beiden Armen dagegenhalten musste. Die Kräfte, die an Paul zerrten, waren unberechenbar, die Fahrt hatte mehr etwas von Segeln als von Autofahren.
Plötzlich merkte sie, wie sich die ganze Landschaft um sie herum in Bewegung setzte, der Boden begann unter ihr wegzugleiten, sie verlor das Gefühl für oben und unten. Rechts und links lauerten tiefe Gräben, die bis zum Rand mit trübem Wasser gefüllt waren und sie erwartungsvoll angrinsten. Sie schaffte es gerade noch, auf die Bremse zu treten und den Käfer vor einer Kreuzung zum Stehen zu bringen. Mit einem Schweißfilm auf der Stirn stieg sie aus.
Sofort fuhr ihr der heftige Wind ins Haar und blies es in alle Richtungen. Vor ihr lagen sattgrüne Weiden mit unzähligen quietschgelben Dotterblumen. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie eine Holzbank. Sie setzte sich hin und ließ sich vom Wind durchpusten. Schmale geteerte Wege gingen in alle vier Himmelsrichtungen und endeten irgendwo am Horizont. Auf den Fahrbahnen waren Risse zu erkennen, die hier und da mit hellen und dunklen Flicken notdürftig verschlossen worden waren.
Plötzlich überkamen sie Zweifel. War es wirklich eine gute Idee, zu Momme zu fahren? Würde er genervt sein? Wenn er gewollt hätte, dass sie sich sehen, hätte er sich doch gemeldet. Andererseits ging es bei ihrem Anliegen in erster Linie um Oma, und das war ein guter Anlass, um ihm gegenüberzutreten.
Nachdem sie ihre Gedanken etwas sortiert hatte, stieg sie wieder in ihr Auto und ließ es nun etwas langsamer angehen. Kurze Zeit später rollte sie auf Mommes kleinen Resthof. Sie stieg aus, klingelte, aber niemand öffnete. Als sie
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