Oma dreht auf
senkte Brockstedt die Stimme auf Zimmerlautstärke: «Du schreibst einen Bericht über alles, was du gesehen hast, und zwar sofort.» Er nahm einen Papierlocher in die Hand – so etwas gab es tatsächlich noch bei der Polizei – und spielte damit herum.
«Mal so von Mensch zu Mensch: Nehmt eure Oma da raus! Christa hat ihre Aufgabe als Pflegerin nicht im Griff, das ist offensichtlich. Imke soll vorgestern auf eigene Faust durchs Watt nach Amrum gelaufen sein, stimmt das?»
«Was? Keine Ahnung», stammelte Maria.
Sönke musste schlucken. Er hatte Maria noch nichts von der Rettungsaktion erzählt, das musste er dringend nachholen. Wenn es selbst ihr Revierleiter schon wusste …
Brockstedt glaubte ihr kein Wort und schüttelte nur verständnislos den Kopf: «Muss denn noch mehr passieren?»
In diesem Moment piepste Sönkes Handy. Eine SMS von Regina. Sie rief zur Familiensitzung am Utersumer Strand.
Von der harmonischen Stimmung, wie sie gestern Abend bei der Geschenkübergabe noch geherrscht hatte, war nichts mehr zu spüren.
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12. Strandburg
Der Utersumer Strand zeigte sich an diesem Tag wie ein vielfarbiges Aquarell: ein Streifen heller Sand, gespickt mit bunten Strandkörben, dahinter eine Schicht braunes Watt, darüber die hellen Dünen auf der Nordspitze von Amrum, und ganz oben ein fetter, dunkler Regenhimmel aus Lila und Schwarz. Die meisten Urlauber ließen sich von dem einsetzenden Niederschlag erst einmal nicht beirren und blieben in ihren Strandkörben oder auf ihren Fahrrädern sitzen, aßen Eis oder setzten ihren Spaziergang fort. Erst als die Tropfen dichter wurden, suchten sie sich einen trockenen Unterstand. Unter den Sonnenschirmen der vielen Straßencafés konnten die Feriengäste wunderbar an der frischen Luft bleiben, ohne nass zu werden. Was manchmal schöner war als gutes Wetter, denn bei Hitze verloren sich die Menschen oft in alle Richtungen. Nun hingegen rückten sie zusammen, bestellten eine Friesentorte oder ein Herrengedeck und kamen viel schneller ins Gespräch.
Sönke erinnerte sich noch daran, wie er als kleiner Junge an diesem Strand zusammen mit Maria einen Strandburgenwettbewerb gewonnen hatte. Er lebte damals mit seinen Eltern in Hamburg, aber da seine Oma hier wohnte, kamen sie regelmäßig zu Besuch. Er musste um die zehn gewesen sein. Ihre Strandburg hatten sie gespickt mit Muscheln, Steinen und selbst gebastelten Wimpeln. Das war inzwischen schon eine echte Alte-Onkel-Geschichte, die Jüngere kaum glauben konnten, denn Strandburgen waren aus Naturschutzgründen mittlerweile streng verboten. Sönke fand, dass vieles leichter und unbeschwerter gewesen war, als man sich über die Umwelt noch nicht so viele Gedanken gemacht hatte. Auch wenn das natürlich vernünftig und notwendig war.
Dicke Tropfen ploppten auf den Sand. Sönke war an Arnes Revier angelangt, hier vermietete sein Onkel seine Strandkörbe. Drei der Körbe hatte Arne in der Nähe des DLRG -Turms wie eine Festung zusammengerückt – je einen für Sönke, Regina und sich. Typisch für unsere Familie, dass jeder seinen Korb hat, dachte Sönke. Sie waren zusammengekommen, um über Oma zu reden. Aber natürlich ging es nach gestern Abend um noch viel mehr.
Erst einmal schwiegen alle und hörten dem Regen zu. Der machte niemandem etwas aus, denn auch bei Schietwetter konnte man sehr gut in Strandkörben sitzen. Wenn man sie aufrecht stellte, ließen sie keinen Tropfen durch. Unter anderen Umständen hätte es richtig gemütlich werden können.
Sönke war schon von seiner fast gleichaltrigen Tante Regina genervt, bevor sie etwas gesagt hatte. Sie war das jüngste Kind von Oma und wohnte mit ihrem Mann Holger und ihrem fünfzehnjährigen Sohn John in einem kleinen Haus in Wyk gleich hinterm Postamt, in der Rungholtstraße. Sönke hatte auf der Party mitbekommen, dass Regina sich lange mit Frau Bösinger unterhalten hatte. Da hatten sich zwei gefunden. Frau Bösinger hatte ihr mit Sicherheit jedes Detail von Omas Amrum-Ausflug weitergetratscht. Zudem konnte Regina Christa nicht ausstehen, von der Sönke wiederum ein echter Fan war. Eine Frau, die auch jenseits der fünfzig noch lustvoll lebte, empfand Regina als pervers, ihre Mutter war das beste Beispiel dafür. Sönke wusste, dass Regina Imkes jahrzehntelange heimliche Liebesbeziehung zu Johannes auf der Nachbarinsel Amrum immer noch als Verrat empfand. Bei der gestrigen Geschenkübergabe hätte man allerdings meinen können, dass Mutter
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