Oma dreht auf
erreichten sie in Ockes Taxi den Anleger zur Fähre. Ocke hatte etwas zu viel Gas drauf, als er über den Metallabsatz fuhr, sodass einmal die Vorder- und dann noch die Hinterachse laut krachte.
«Hell Driver!», murmelte Imke und löste damit allgemeines Gewiehere aus.
«Wart ihr damals auch bei den Hell Drivers auf dem alten Golfplatz?», rief Christa. «Wann war das noch?»
«Dreiundsiebzig», erinnerte sich Imke. «Ich glaube, es gab keinen Föhrer, der da nicht war.»
«Nee, das war vierundsiebzig!», widersprach Christa.
Ocke lächelte Christa an. «Stimmt. Ich war damals gerade zwei Tage auf Landgang. Wie die mit ihren Fords über die Rampen gejagt sind, und dann – dschhht – über zwei, drei Autos rüber und – Crash!»
«Sie sind mit Opels gefahren, nicht mit Fords», korrigierte Imke.
«Nee, Fords. Ich wollte mir nämlich genau so einen kaufen, wie sie da kaputt gefahren haben. Aber ein Auto lohnte sich damals gar nicht für mich, dafür war ich immer viel zu lange auf See.»
«Trotzdem Ford», sagte Christa augenzwinkernd.
«Wieso zeigen sie heute solche tollen Sachen nicht mehr?»
«Umwelt!», seufzten Christa und Ocke wie aus einem Munde.
Das Autodeck war fast leer. Der Verkehr von Föhr nach Amrum war an diesem Tag überschaubar und bestand überwiegend aus Tagesgästen, die nur mal wissen wollten, wie es auf der Nachbarinsel so aussah. Die «Uthlande» der W.D.R.-Reederei nahm den üblichen Kurs parallel zum Südstrand, der voller Menschen war, die den ganzen Tag nichts anderes machten als im Strandkorb zu liegen und zu schwimmen. Ocke und Christa stiegen aus und stellten sich an den Bug, während Imke auf der Rückbank sitzen blieb und das Fenster herunterkurbelte. Alles roch urvertraut: das hell glitzernde Nordseewasser, das im Sommer vollkommen anders duftete als im Winter; es gab aber auch spezielle Heimatgerüche, die nichts mit der Natur zu tun hatten, wie die Abgase des Schiffsdiesels, die frische weiße Farbe auf dem Geländer und das Sonnenöl der Passagiere.
Jeder Flecken auf dieser Insel erzählte eine Geschichte: Sie dachte an ihre Konfirmation im «Friesendom» in Nieblum, die Fahrradfahrt auf dem Gepäckträger ihrer Mitschülerin Hanne, bei der sich ihre Tracht in den Speichen verfing und einen langen Riss bekam, die erste schüchterne Liebe zu Erik, der die längsten blonden Wimpern besaß, die sie jemals bei einem Mann gesehen hatte, die Hausgeburt ihres ältesten Sohnes Arne, der unglaublich viele Haare hatte, dann die Geburt ihrer anderen Kinder, Geeske, der Mutter von Sönke, Cord und Regina. Das Unterbewusstsein mischte die Erinnerungen nach seiner eigenen Ordnung und Wichtigkeit. Plötzlich tauchte Wilhelm, der alte Schuster mit der abgewetzten Lederschürze, auf, an den hatte sie schon Jahrzehnte nicht mehr gedacht, genauso wie die Referendarin in der Grundschule, deren Namen sie vergessen hatte, weil sie nur ein Vierteljahr auf der Insel geblieben war. Alles, was ihr einfiel, kam ihr so frisch vor wie der Wind hier auf der See, auch wenn es schon so lange zurücklag. Imke war nicht auf dieselbe Art religiös wie die Bösingers, aber sie dankte Gott dennoch mit einem stillen Gebet, dass er dieses Eiland für sie ausgesucht hatte.
Vor ihr standen Christa und Ocke eng nebeneinander. Die beiden redeten kein Wort, sondern blinzelten einfach stumm auf das Wasser, das aus lauter hellen Leuchtpunkten zu bestehen schien. Sie sind sich näher, als es ihnen bewusst ist, dachte Imke und freute sich. Ob es mit ihnen klappen würde? Liebe auf den zweiten Blick? Für sie wäre so etwas undenkbar gewesen, es musste
gleich
knallen, oder es ging gar nicht. Leider hatte sie das nicht vor Irrtümern geschützt. Aber Christa und Ocke passten perfekt zusammen, schon deswegen mussten sie das Haus in Dunsum halten, es war ideal für die beiden – wenn sie mal nicht mehr war. Sie stieg aus und gesellte sich zu ihnen.
«Wenn ihr drei Fotos mit ins Paradies nehmen dürftet, was wäre da drauf?», fragte sie.
«Keine Ahnung, das ist sehr theoretisch», meinte Ocke.
«Meine ersten Fotos vom Watt, die ich als kleines Mädchen aufgenommen habe», sagte Christa.
«Bei mir wäre es ein Gruppenbild mit meinen Kindern und mit euch», sagte Imke. «Johannes ist auch mit drauf. Das zweite wäre eins von der Camden Street in London, mit all dem Gewusel vor den Geschäften, da konnte ich stundenlang im Café sitzen und einfach zuschauen.»
Amrum rückte immer näher.
Ocke schaute nach vorn, wo
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