Oma ihr klein Häuschen
Single bedeutet ja nicht, ein Jahr kein Date gehabt. So war es nun auch nicht. Natürlich habe ich Frauen getroffen. Ich habe zweimal eine Frau in einem Straßenbahndepot abgeholt, mit einer anderen war ich bei einem Barockkonzert mit Originalinstrumenten, ich habe kostenlose Physiotherapie erhalten, war auf Ü-3 0-Partys und im Lager eines Reifenhändlers. Langzeitsingles qualifizierensich bei ihrer Suche nach der richtigen Frau hervorragend für eine Karriere als Berufsberater – nur waren es in meinem Fall leider immer die falschen. Das heißt, natürlich waren nicht die Frauen falsch, sondern ich für sie, oder sie für mich.
Wirklich, Sönke?
Zehn-, fünfzehnmal, und immer alle falsch?
Und jetzt bricht mir nach den Frauen und dem Job auch noch die Großfamilie weg. Es klingt vielleicht blöd, aber für mich hatte das hier auf Föhr immer eine große Bedeutung, auch wenn ich in Hamburg aufgewachsen bin.
Es gibt ja ganz besondere Familien, die fest als Clans zusammenhalten, wie zum Beispiel die Kennedys, die Manns oder Mafia-Familien in Süditalien. So sind die Riewerts nicht. Wir sind ganz normal und wollen gar nichts anderes sein, keiner von uns war je im Fernsehen oder ist Herzchirurg oder Staatssekretär geworden. Alle paar Jahre sehen wir uns, finden das herrlich, und dann geht jeder wieder seiner Wege. Die Sippe war nie das Wichtigste in meinem Leben, aber jetzt, wo sie zu zerbrechen droht, fehlt sie mir.
Ich muss mich jetzt einfach zusammenreißen. Eigentlich bin ich ja wegen Oma hier. Und mit Maria kann ich trotzdem eine Pizza essen gehen. Die restliche Zeit findet man mich am Strand oder im Wasser. Es ist eben doch nicht ganz unwichtig,
wo
man eine Krise hat, und meine findet nicht in einem Gewerbegebiet, sondern an einem der schönsten Plätze dieses Planeten statt. Das sollte ich verdammt nochmal genießen. Ich muss nur noch Cord klarmachen, dass er mich in Ruhe lassen soll. Und wenn er es so nicht kapiert, singe ich es ihm notfalls vor.
Ein paar Kilometer vom Leuchtturm Olhörn entfernt wird die breite, solide Promenade parallel zum Strand plötzlichsehr seltsam. Da stehen mit einem Mal auf drei Etagen Bänke im zubetonierten Uferhang, wie auf einer Tribüne, alle schief und asymmetrisch verschraubt. Davor schaut man auf einen senkrechten Stein mit einem Tampen. Ein paar Meter weiter erkennt man ein wildes Muster auf dem Pflaster und ein Schild, welches das Rätsel löst: «Der Neubau der Uferpromenade wurde vom europäischen Fonds für regionale Entwicklung kofinanziert.» Warum gerade auf diesen dreißig Metern und nicht in Rumänien oder im Baltikum, ist mir unklar. Was soll sich denn hier aus den schiefen Bänken entwickeln?
Ich lege mich direkt vor dem Schild an den Strand. Am liebsten würde ich jetzt tief ins Wasser eintauchen und meine Stirn entspannen, während die salzige Nordsee sanft meine Kopfhaut massiert. Aber leider ist gerade Ebbe und das Meer weit weg. Was die Badegäste nicht davon abhält, sich trotzdem an den Strand zu legen. Wie harmlose, runde Tiere lagern sie in ihren nummerierten Strandkörben. Für mich sind diese Menschen der Inbegriff von Freiheit, und momentan fühle ich mich ihnen sehr viel näher als meiner Familie.
Die Mahnungen der Krankenkassen, die scheinbaren Ideale, die uns in den Medien vorgegaukelt werden: All das interessiert sie nicht. Die Menschen hier haben sich unabhängig davon gemacht: Dreißig Kilo Übergewicht werden nicht verdeckt oder kaschiert, im Gegenteil, auf der Promenade steckt man das T-Shirt sogar extra fest in die Hose. Dazu wird das Kreuz durchgedrückt, sodass die Rundungen noch deutlicher hervortreten. Models sind die Abweichung von der Norm, nicht sie!
Keiner muss sich hier schämen, auch ich nicht.
Als ich meine leichte, khakifarbene Baumwollhose ausziehe,enthülle ich ein körperliches Detail, das mir schon immer etwas unangenehm war: Ich habe keine Beinhaare. Die Frauen denken alle, dass ich sie mir rasiere. Ist ja auch logisch bei den vollen braunen Haaren auf meinem Kopf, dem kräftigen Bartwuchs und den dichten Brusthaaren. Aber nie hat sich eine die entscheidende Frage zu stellen getraut: Wozu macht ein Mann das? Um die Sache sofort klarzustellen, rede ich meist selbst über meinen Defekt, bevor er anderen auffällt.
Hier jedoch, unter den freien Föhrer Badegästen, brauche ich das nicht, hier bin ich einer unter vielen Unvollkommenen.
Und solche Probleme wie die ältere Touristin, die sich dahinten an eine Buhne im
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