Oma ihr klein Häuschen
Watt lehnt, hat bei uns Riewerts Gott sei Dank keiner. Allerdings werde ich mit Sicherheit so enden, wenn sich nicht bald etwas ändert. Immer wieder versucht die ältere Frau sich aufzurichten, und genauso regelmäßig rutscht sie auf dem glitschigen Meeresboden aus. Neben ihr steht eine halbleere Flasche Korn. Ihre weiße Hose und die schicke helle Bluse sind bereits ziemlich eingesaut mit dunkelgrünem Schlick. Komischerweise erinnert sie von hinten mit ihrem Kurzhaarschnitt ein bisschen an meine Oma, nur dass Oma Imke keinen Alkohol mag. Hin und wieder trinkt sie ein Glas Schnaps, um die Wirkung ihrer Schmerztabletten zu verstärken, wenn die Osteoporose sie quält. Es ist nicht gerade das, was ihr Internist empfiehlt, aber es wirkt. Ansonsten nippt sie bei Empfängen und Feiern höchstens mal höflich am Sektglas, um es später unauffällig auszukippen.
Zum Geburtstag bekommt Oma von mir einen kleinen lila Reiseföhn, den ich in einen schuhkartongroßen Kunstharzblock eingegossen habe. Die Firmenaufschrift des Föhnshabe ich mit einer krakeligen Signatur überklebt: Emil Nolde. Es ist eine Erinnerung an einen gemeinsamen Museumsbesuch bei mir in Hamburg vor zwei Jahren. Damals wollte Oma Imke unbedingt in eine Emil-Nolde-Ausstellung in der Kunsthalle. Da hatte es jedoch einen Wasserrohrbruch gegeben, sodass die Halle bis auf weiteres geschlossen war. Ich schlug vor, ein paar hundert Meter weiter zum Kunstverein zu gehen, warnte sie allerdings, dass man dort nie weiß, was einen erwartet, schöne Bilder oder Chaos.
Oma setzte ihren leicht empörten Was-denkt-mein-Enkel-eigentlich-wer-ich-bin-Blick auf und legte mir beruhigend die Hand auf mein Handgelenk: «Ich komme schon zurecht.»
Gezeigt wurden harmlose Arbeiten Hamburger Nachwuchskünstler, ein paar Bleistiftporträts von Lurchen, eine gefällige Steinskulptur, Fotos vom Schlachthof, die mit Blumen übermalt waren – und eine braune Pappe, auf der ein lila Föhn montiert war. Der Titel lautete: «Ohne Titel, 2007». Wenn man mich fragte, war es alles nicht umwerfend, und auch Oma war enttäuscht, hatte ich sie doch auf Tabubrüche und Skandale vorbereitet.
Plötzlich nahm ein Reisebus mit dem Aufdruck «De Riesebyer» den seitlichen Fenstern das Licht, eine Minute später fluteten an die dreißig Frauen vom Landfrauenverein Jannebyfeld in die Halle. Sie hatten einen Tag Hamburg pauschal gebucht und wie wir vor der verschlossenen Kunsthalle gestanden, bevor sie von ihrer Reiseleiterin hierhin geschickt wurden. Ratlos und ein wenig befangen standen die Frauen im Raum und wisperten sich mit unsicheren Blicken Boshaftigkeiten über die Exponate zu. Plötzlich trat Oma auf den Plan – ich schwöre, sie hatte mir gegenüber nicht den Hauch einer Andeutung gemacht –, klatschte lautin die Hände und rief: «Meine Damen, wenn ich mal kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte!»
Sofort fiel ihr die Reiseleiterin ins Wort: «Wir haben nur den Eintritt bezahlt, die Führung …»
«… ist umsonst», beruhigte sie Oma und wandte sich wieder ihrem Publikum zu. Sie stellte sich vor den lila Föhn, der in dem Pappkarton steckte, woraufhin die Landfrauen sofort einen Halbkreis um sie bildeten.
«Der Künstler, der diese Skulptur angefertigt hat, heißt Hugo Jensen …», begann Oma Imke.
Wo nahm sie das bloß her?
«… Man kann zu Recht behaupten, dass Jensen lange Zeit ein Getriebener war. Die letzten Jahre hat er in São Paulo gelebt, war drogenabhängig und wurde von Indianern im brasilianischen Urwald geheilt. Heute lebt er zurückgezogen auf einer Hallig im Wattenmeer und beschäftigt sich mit den Gezeiten, dem Wechsel von Ebbe und Flut. All diese Eindrücke, Brasilien und die Hallig, vereinigen sich geradezu idealtypisch in dieser Skulptur. Haben Sie noch Fragen?»
Die Landfrauen starrten auf den Föhn und schwiegen ergriffen. Niemand verstand auch nur ansatzweise den Zusammenhang zwischen Brasilien, dem Watt und dem Föhn. Wie auch? Ich drehte der Gruppe den Rücken zu, denn ich musste mir fest auf die Lippe beißen, um nicht loszubrüllen vor Lachen.
«Moderne Kunst ist was für sich», flüsterte eine Frau ihrer Nachbarin zu, die zustimmend kicherte und sich dann schnell wieder zusammenriss. Nur eine Schmallippige in bunter Bluse wagte eine Wortmeldung: «Hier steht aber, dass der Künstler Fabian Rothmann heißt.»
Das Problem war, dass Oma ihre Brille nicht auf und den Namen des Künstlers nicht erkannt hatte. Ich war sicher,jetzt
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