Oma ihr klein Häuschen
immer gefragt, wie eine tolle Frau wie Oma mit einem Stinkstiefel wie unserem Großvater zusammen sein konnte, aber das war ein Tabuthema, das ich nie angesprochen habe. Ich ging einfach immer plump davon aus, dass man in ihrer Generation einfach viel erduldete und die Klappe hielt. Ein blödes Vorurteil, wie sich gerade herausstellt.
«Du meinst …»
«Ja, euer Großvater hat davon nichts geahnt.»
«Aber warum hast du uns nach Opas Tod nichts davon erzählt?», staunt Maria.
«Ich wusste nicht, wie meine Kinder reagieren.»
«Und wo habt ihr euch kennengelernt?», will Maria wissen und bereut es anscheinend gleich wieder. «Tut mir leid, ich bin einfach zu neugierig.»
Oma lächelt versonnen: «Wir sind uns im Watt begegnet, er kam von Amrum, ich von Föhr.»
Das war eine der wenigen Freiheiten in Omas Ehe, die nie zur Disposition standen: ihre Wattwanderungen, die sie fanatisch durchzog. Jetzt ist klar, warum.
«Können wir ihm nicht mal hallo sagen?», bittet Maria.
«Immerhin gehört er zur Familie», ergänze ich.
«Es geht Johannes nicht gut», sagt Oma, «er hatte vor zwei Wochen einen Schlaganfall.»
Sie blickt zum Wasser. Die Flut überspült den Weg, den Maria und ich gerade gekommen sind.
«Kommt», fordert sie uns auf.
Maria und ich schauen uns mit banger Erwartung an.
Mit dem Wohnzimmer betreten wir nicht nur einen fremden Raum, sondern auch ein anderes Land, wie es scheint. Es gibt keine Wand ohne ein volles Bücherregal – alle Buchrücken sind in kyrillischer Schrift bedruckt, sodass ich nicht einmal ahnen kann, worum es geht: Mathematik, Schachspiel oder Poesie? In einer Ecke steht eine riesige, dunkelrote Couch, neben dem großen Fenster zum Garten ist ein Krankenhausbett aufgestellt. Der Mann, der darin liegt, hat sich eine elegante schwarze Hornbrille in die wuseligen weißen Haare gesteckt, die ein bisschen an Einstein erinnern.
Er schläft.
Auf dem dunklen Eichenparkett liegen unzählige Schwarz-Weiß-Fotos im DIN-A 4-Format , alles Winterbilder. Oma und Johannes im Schnee, vor einer russischen Holzkirche,Oma mit einer Pelzmütze in einem Wald, der unter den schweren Schneelasten fast erstickt. Auf den Bildern ist Oma viel jünger als jetzt, vielleicht vierzig. Johannes sieht kräftig und stark aus. Seine Augen wirken listig, sein Kinn kantig, was überhaupt nicht zu seiner runden Kartoffelnase passt. Er trägt Oma auf seinen Armen zu einem Motorschlitten. Ungefähr zehn Jahre später sitzt sie vor einer Jurte aus Fellen, aus der Rauch steigt. Sie isst etwas, das aussieht wie roher Fisch, zwei Inuit sitzen neben ihr und zeigen lachend ihre silbernen Jackettkronen.
Ich habe nicht gewusst, dass Oma jemals in Russland war.
Nun schleicht Oma zu ihrem Geliebten und streicht ihm zart über die Wange. Es geht mir durch und durch, wie vertraut sie mit ihm ist, und doch wirkt es gleichzeitig fremd.
«Johannes?», flüstert Oma. «Wir haben Besuch.»
Hinter seinem Bett entdecke ich noch eine Bücherwand mit Bänden in deutscher, englischer und französischer Sprache: Biographien von Nelson Mandela, Shirley MacLaine, Thomas Mann, Victor Hugo, François Mitterrand. Dazwischen ein einziges russisches Buch, dessen Titel ich erraten kann: Lenin.
Johannes schlägt die Augen auf und schaut uns an.
«Sönke? Maria?», keucht er, ohne zu zögern. Seine Aussprache klingt so, als hätte er einen Klops im Mund, denn seine rechte Gesichtshälfte scheint vom Schlaganfall gelähmt zu sein. Ich bin tief beeindruckt, dass er uns in seinem Zustand erkennt – Menschen, die er nie gesehen hat, höchstens auf Fotos. Er ist auf jeden Fall bestens informiert.
«Ja», bestätigt Oma.
Ich trete mit Maria an sein Bett, sie will ihm als Erste die Hand geben, aber er schüttelt nur bedauernd den Kopf.
«Die Arme wollen nicht mehr», erklärt uns Oma.
«Hallo, Herr … Entschuldigung, ich weiß nicht mal Ihren Nachnamen», spreche ich ihn an.
«Moin», röchelt Johannes schwach.
«Ihr könnt ‹Johannes› und du zu ihm sagen», schlägt Oma vor und wendet sich ihrem Geliebten zu, «oder?»
Johannes nickt bestätigend.
Ich schaue Maria an.
Ihre Haare sind immer noch von Wind und Regen im Wattenmeer nass und verwuselt. Sie steht ergriffen da, ohne einen Muskel ihres Körpers zu bewegen, und ist ganz bei Johannes.
«Wir haben eben erst von dir erfahren», sage ich. «Gut, dass Oma dich hat.»
Maria nickt: «Finde ich auch.»
Jetzt bäumt Johannes sich auf und ringt sich mit allergrößter
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