Oma klopft im Kreml an
wahrscheinlich recht haben», stimmte Miss Baker zu. «Er weiß sehr viel über Moskau. Aber das ist nicht die russische Familie, an die ich denke. Meine Familie ist einfach und freundlich, und ich bin ganz durch Zufall sozusagen über sie gestolpert, es kann
also nicht von Finten und finsteren Machenschaften die Rede sein.»
«Wie haben Sie sie denn kennengelernt?» fragte Jackie. Im Gegensatz zu Humphrey interessierte sie erst einmal das Ende einer Geschichte, ehe sie urteilte.
«In einer Kirche», erklärte Miss Baker. «Sie sah jedenfalls von außen wie eine Kirche aus. Als ich aus dem Bus stieg, sah ich sie über die kleinen Holzhäuser emporragen. Ich wollte nämlich eigentlich zum Metropol, wußte den Weg aber nicht mehr und dachte, ich lasse es lieber bis morgen. Aber der Nachmittag war so herrlich, und ich hatte einen solchen Tatendrang, daß ich einfach in den nächstbesten Bus gestiegen und bis zur Endhaltestelle gefahren bin.»
Miss Baker stellte ihre leere Teetasse vorsichtig auf den Couchtisch und lehnte sich, ganz von ihrem Erlebnis erfüllt, in ihrem Sessel zurück.
«Die Kirche hatte einen Zwiebelturm mit vier kleinen Kuppeln rundherum, die aus der Entfernung ganz stabil aussahen; aber als ich den kleinen Hügel hinaufgeklettert war, merkte ich, daß sie ganz verfallen waren und an vielen Stellen das Eisengerüst zu sehen war.
Um die Kirche war eine Steinmauer, und ein kleiner Junge in Knickerbockers spielte im Sand. Als er mich sah, hörte er auf zu spielen, starrte mich an und rannte in die Kirche. Ein paar Minuten später kam er mit zwei kleinen Mädchen zurück, und wir alle machten einen Spaziergang um die Kirche. Ich entdeckte in meiner Handtasche ein paar Pennies, worüber sie sich sehr zu freuen schienen, und dann nahmen sie mich mit hinein. Zuerst dachte ich, ihre Eltern seien drin beim Gottesdienst, aber dann merkte ich, daß sie dort wohnten.
Die Decke des Innenraums war die Kuppel des großen Turms, aber der Steinfußboden war durch etwa zwei Meter hohe Wände in kleine Abteile aufgegliedert, in denen Betten, Tische und Schränke standen.
Die kleinen Mädchen führten mich dorthin, wo früher einmal der Altar gestanden hatte. Dort war eine Art Gestell mit mehreren Spirituskochern, und darunter standen Wassereimer aufgereiht. Alles war sauber und ordentlich, wirkte aber zusammen mit den alten Fresken an den Wänden und den hohen Säulen sehr seltsam.
In dieser komischen kleinen Küche waren vier Frauen, und die Kinder redeten auf sie ein und sagten ihnen wohl, wer ich bin. Keine von ihnen konnte die Mutter der Kinder sein, sie waren viel zu alt, zwei waren sogar älter als ich. Aber sie lächelten mich an, und eine nahm ihre Schürze ab, zeigte auf einen großen Samowar in der Ecke und holte ein paar Teegläser aus dem Schrank.
Wir setzten uns und tranken Tee, und die Frauen fingen an, sich untereinander über mich zu unterhalten. Schließlich wurde der kleine Junge losgeschickt und kam bald mit einer jüngeren Frau zurück, die ein bißchen Deutsch sprach. Sie sagte, sie habe es im Krieg gelernt, habe aber fast alles wieder vergessen. Als ich ihr sagte, daß ich Engländerin sei, wurden alle ganz aufgeregt. Eine von ihnen - die mir den Tee angeboten hatte - erzählte, sie habe eine Enkelin, die in irgendeinem Institut Englisch lerne, und ob ich nicht noch ein bißchen warten könne, bis das Mädchen nach Hause komme, denn es würde eine große Sache für sie sein, eine richtige Engländerin kennenzulernen.
Also blieb ich, bis es dunkel wurde. Sie gingen und füllten ihre Eimer an dem Brunnen hinter der Kirche und holten die Wäsche herein, die vor der Sakristei gehangen hatte. Und sie zeigten mir, wie sie ihre Suppe aus roten Rüben kochen, und so verging die Zeit sehr schnell.
In der Kirche wohnen zwölf Familien, und allmählich kam alles nach Hause. Plötzlich war die Kirche voller Menschen - Väter und Mütter, Schulkinder und mehrere junge Leute.
Zuletzt kam auch die Enkelin nach Hause, ein großes, blondes Mädchen namens Anna. Zuerst war sie sehr schüchtern, weil sie sich noch nie mit einem Ausländer unterhalten hatte. Sie erzählte, daß sie seit vier Jahren Englisch studiere, aber nur mit ihren Kommilitonen Englisch spreche. Ich sprach sehr langsam und deutlich, und als sie merkte, daß sie alles verstand, wurde sie ein bißchen sicherer. Ihre Mutter ist eine winzige kleine Frau, die in einer Bäckerei arbeitet, und ihr Vater ist ein großer, herzhafter Mann mit
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