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Oma klopft im Kreml an

Oma klopft im Kreml an

Titel: Oma klopft im Kreml an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Telscombe
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Humphrey, der nervös in seinem Stuhl hin und her rutschte.
    «So, und jetzt sagt mir, ob ihr glaubt, daß die Leute heute abend echt waren.»
    «Natürlich waren sie echt», sagte Jackie langsam, während sie versuchte, Miss Bakers russisches Idyll mit ihren eigenen Erfahrungen in Einklang zu bringen. «Aber Sie haben sie nur einmal gesehen, Miss Baker.»
    «Ich werde sie wiedersehen», sagte Miss Baker. Sie hatte überall in der Welt Bekanntschaften geschlossen - mit griechischen Bauern in ihren Bergdörfern, Beduinen in Wüstenoasen, Negerstämmen in Afrika, und sie war jetzt, da einmal ein Anfang gemacht war, sicher, daß sie mit einer russischen Familiengemeinschaft denselben Erfolg haben würde. «Sie haben mich eingeladen. Ich würde es gar nicht fertigbringen, jetzt nach Hause zu fahren, ohne sie richtig kennengelernt zu haben.»
    «Wenn Sie sie Wiedersehen, wird es nicht wieder so sein», sagte Jackie mit Überzeugung. «Ich weiß genau, wie Ihnen jetzt zumute ist. Ich habe auch ein paar Russen kennengelernt - genauso warmherzige, echte Leute, wie Sie sie beschreiben. Meist traf ich sie zufällig - im Zug, im Park oder im Restaurant. Und dieses erste Treffen hinterließ im allgemeinen eine sehr nette Erinnerung. Aber immer, wenn ich dumm genug war, ein zweites folgen zu lassen, wurde ich enttäuscht. Oft erschienen sie zur zweiten Verabredung einfach nicht. Wenn sie doch kamen, wirkten sie irgendwie verkrampft. Entweder fürchteten sie, mit mir gesehen zu werden, und strebten sofort aus der Hotelhalle weg in irgendein kleines, unauffälliges Restaurant, oder sie taten übertrieben unbekümmert und holten mich in der Wohnung ab, ohne den Milizsoldaten überhaupt zu erwähnen. Dann wußte ich, daß sie Einfluß hatten und sich die Erlaubnis geholt hatten, mich zu besuchen.
    Aber die gewöhnlichen, einfachen Leute erzählen ihren Nachbarn davon und geben mit ihrer ausländischen Bekanntschaft an, und bald bekommt einer von der Partei Wind von der Sache. Alle werden ausgefragt, und die ganze harmlose Sache wird durchdiskutiert. Wenn sie dann ins Kreuzverhör genommen worden sind darüber, was der Ausländer sie gefragt hat und was sie geantwortet haben, und man ihnen bedeutet hat, daß ihre Antwort nicht ganz der derzeitigen Parteilinie entspreche und sie in Zukunft doch lieber das und das antworten und nach der Gleichberechtigung der Frauen im Westen fragen sollten, und wie es mit der Kolonialpolitik stehe - also dann kommen sie sehr bald dahinter, daß es viel zu kompliziert ist, sich mit Ausländern abzugeben. Es ist wirklich viel bequemer, diese interessante Bekanntschaft zu vergessen und sich an die eigenen Nachbarn und Freunde zu halten und an die Dinge, die man kennt.»
    Jackie holte tief Luft und stieß sie mit einem Seufzer wieder aus.
    «Es tut mir leid, wenn das, was ich gesagt habe, zynisch klingt. Wahrscheinlich ist Ihnen schon aufgefallen, daß wir alle zynisch sind -alle Ausländer in Moskau. Stew Ferguson und die Korrespondenten, das Botschaftspersonal, die Geschäftsleute, die regelmäßig herkommen. Aber als wir hier ankamen, waren wir nicht so. Wir sind so oft zurückgestoßen und enttäuscht worden, daß wir jetzt als (geschlossene Gesellschaft) Zusammenhalten. Hier sind wir Ausländer und werden nie etwas anderes sein. Deshalb würde ich Ihnen nicht raten, noch einmal zu Ihrer Kirche zu gehen, Miss Baker. Sie werden nur enttäuscht.»
    Humphrey stellte fest, daß ihn diesmal Jackies Einmischung in seine Familienangelegenheit nicht irritierte. Er hielt den Atem an und ließ seine eigenen Einwände nicht laut werden, während seine Tante schweigend Jackies Argumente erwog. Miss Baker sah lange auf ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Im Gegensatz zur Familie Napier wurde sie nicht von nervösen Zuckungen befallen, wenn sie über ein Problem nachdachte. Sie blieb völlig bewegungslos. Seit langer Zeit hatte sie die Angewohnheit, ihren Blick ins Leere zu richten, wenn sie sich mit einer Sache innerlich beschäftigte. Humphrey war an «Tante Lavinias Trance-Zustände», wie seine Mutter das nannte, von Kind an gewöhnt, aber für Jackie war es ein bißchen unheimlich, in Miss Bakers völlig ausdrucksloses Gesicht zu blicken und zu versuchen, den Gedanken zu folgen, die hinter dieser leeren Maske arbeiteten.
    Und dann, gerade als Jackie protestierend sagen wollte: «Kommen Sie zurück, Miss Baker. Sie machen mir Angst», bewegte sich Miss Baker plötzlich, und ihr Gesicht bekam wieder

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