Oma packt aus
Rüdiger war abgehauen. Offensichtlich im Schweinsgalopp.
Jan nahm seinen Platz ein. »Draußen ist Besuch für dich.«
Sag bloß.
»Ich will niemanden sehen. Ich bin eine Schande für die Familie. Das sagt Opa auch.«
»Wann hast du denn mit dem Padrone gesprochen?«
»Der doch nicht. Ich rede von Opa Hermann.«
»Du hast wohl geträumt, Kröte.«
Ja, das hoffte ich auch ständig, aber Opas Erscheinungen ließen mich doch um meine geistige Verfassung bangen.
Jan zog mir die Decke weg und schaute mich an. Zwei Sekunden lang dachte ich, er würde genauso vom Bett springen wie eben Rüdiger.
Tat er aber nicht. Jan war tapfer. Mal abgesehen von seinem Gesichtsausdruck. Aufgerissene Augen und sperrangelweit offen stehender Mund verhießen wenig Gutes.
»Sehe ich schlimm aus?«, piepste ich.
»Äh … na ja … also … du …«
Mein wortgewandter Bruder hatte sein Sprachvermögen eingebüßt.
Ich schaute zum Fenster. Vielleicht würde ich mir ja nur einen Arm brechen. Oder so.
»Kann ich mal einen Spiegel haben?«
»Nein!«
»Spinnst du? Ich habe mir bloß die Nase gebrochen.«
»Äh …«
Die Tür wurde wieder geöffnet, Jan warf mir mit einer einzigen fließenden Bewegung die Decke über den Kopf.
Autsch.
Ganz schön empfindlich heute, mein Gesicht.
Meine Seele auch. Wie sollte ich Paul das alles erklären? Vielleicht ganz locker? Hey, Schatz, ich bin einem Imperator vom Schoß gesprungen und dabei gestolpert?
Klang nicht gut.
Und wie kam Paul überhaupt hierher?
»Nele«, sagte Sissi. »Das ist ja ein Ding.«
Ich lugte unter der Decke hervor. »Was machst du denn hier?«
Sissi grinste. »Jan hat mich heute ganz früh angerufen, dann hab ich Paul benachrichtigt, und wir haben den ersten Flieger nach Bari genommen.«
Ich staunte.
Schnelle Entscheidungen passten nicht zu Paul.
»Er war sowieso gerade im Hotel«, fuhr Sissi fort, »weil er sich überlegt hatte, dich zu besuchen. Er hat mich um die genaue Adresse gebeten.«
Ach so.
»Er wollte mit dir über was Wichtiges reden.«
Sie sagte nicht, was.
»Zeig mal, ist es schlimm?«
Sie zupfte an der Decke, ich hielt sie fest.
»Stell dich nicht so an. Du bist bloß hingefallen und nicht unter einem Hackebeilchen gelandet.«
»So sieht sie aber aus«, murmelte Jan.
Was?
Meine beste Freundin überzeugte sich selbst.
»Oh Gott!«
So langsam gaben mir diese Reaktionen zu denken. Erst Rüdiger, dann mein Bruder und nun Sissi. Bevor die beiden es verhindern konnten, griff ich in meine Handtasche und holte einen kleinen Spiegel hervor.
Herr im Himmel!
Ungläubig starrte ich auf das Monster darin. Blutunterlaufene Augen, ein dicker weißer Gips, rote Schrammen an den Wangen und ein angeschwollenes blaues Kinn. Mein Verstand kombinierte, dass Steinquader und Erdanziehungskraft mehr Schaden als gedacht angerichtet hatten.
Mein Instinkt riet flugs zum Selbstmord.
Jan schaute mich an. »So übel ist es gar nicht.« Einen größeren brüderlichen Liebesbeweis hatte ich von ihm noch nie bekommen. Nicht einmal die fette Umarmung, als er von meiner Adoption erfahren hatte, kam dagegen an.
»Genau«, sagte Sissi. »Mit ein bisschen Schminke verwandeln wir dich schnell wieder in ein menschliches Wesen.«
»An die Wunden darf aber kein Make-up«, gab Jan zu bedenken. Bevor er den Blick abwandte, erzählten mir seine Augen außerdem, dass es sowieso sinnlos wäre.
Ich beschloss, die nächsten zwei Wochen unter der Decke zu bleiben.
War eigentlich ganz gemütlich hier.
Es klopfte. »Darf ich hereinkommen?«, fragte Paul.
»Nein!«, schrien wir im Chor.
Ich konnte förmlich durch die Tür sehen, wie er zurückprallte.
»Kriege ich jetzt endlich was zu essen?«, fragte eine mürrische Mädchenstimme.
Margherita war das nicht.
Wer dann?
»Komm mit in die Küche«, antwortete Margherita. »Mal sehen, was wir für dich finden. Tiramisù ist aber alle.«
Sie schienen ein paar Schritte weggegangen zu sein, denn Margheritas Stimme klang leiser, als sie erneut sprach. »Gianpaolo, Gianpietro, wo kommt ihr denn her?«
»Aus München natürlich, liebste Tante Margherita«, erwiderte eine tiefe Männerstimme.
»Mutter hat uns informiert, was hier los ist«, fügte eine zweite ganz ähnliche Stimme hinzu. »Da wollten wir selbst nachschauen.«
Dunnerlittchen!
Da fiel ich mal auf die Nase und löste gleich die nächste Völkerwanderung aus.
»Die Tante könnt ihr ruhig weglassen«, erwiderte Margherita lachend. »Komm jetzt, Klara.«
Klara,
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