Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
schlauen politischen Plan. Er stürzte sich Hals über Kopf in die Operation Marzano und ließ ebenso schnell wieder die Finger davon, als er erkannte, wie fest die ’Ndrangheta in Kalabrien verwurzelt war. Vernünftigerweise beschloss Minister Tambroni, für Marzanos leicht errungene frühe Siege den Beifall einzuheimsen, ein paar Ganoven für mehrere Jahre in Strafkolonien zu verbannen und dann in Kalabrien wieder alles auf die herkömmliche Weise zu regeln. Symptomatisch für diese Rückkehr zur Normalität war der Ausgang des Verfahrens gegen das Ungeheuer von Presinaci. Im September 1957 wurde Serafino Castagna, wie abzusehen war, zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Doch von den 65 Männern, die er mit seiner Aussage belastet hatte, wurden 46 freigesprochen und die restlichen 19 zu einer Freiheitsstrafe von zwei bis drei Jahren auf Bewährung verurteilt.
Die Geschichte der Operation Marzano und des Ungeheuers von Presinaci ist typisch für die Reaktion des Staates auf die Gewalt der Gangster. Kaum verschwand die Gewalt wieder aus den Schlagzeilen, kehrten die Behörden zu ihren alten Gewohnheiten zurück und lebten erneut in Eintracht mit der Mafiamacht.
Der Kartoffelpreispräsident (und seine Witwe)
Mitte der fünfziger Jahre deuteten gewisse Anzeichen darauf hin, dass Italiens Wirtschaft eine Phase anhaltenden Wachstums erreicht hatte, die endlich die Härten des Krieges vergessen ließe. 1950 überholte die industrielle Produktion das Vorkriegsniveau. Die Inflationsrate, die 1947 auf 73 , 5 Prozent gestiegen war, sank auf einstellige Werte. Auch die Arbeitslosigkeit ging stetig zurück. Der Süden hinkte noch immer dem Norden hinterher, doch in den Großstädten aller Regionen gaben die Italiener wieder mehr Geld aus. Eine bessere Ernährung stand landesweit an oberster Stelle der Einkaufslisten, insbesondere die Bestandteile dessen, was später als mediterrane Kost bekannt werden würde: Pasta und vor allem Obst und Gemüse.
Besonders deutlich zu spüren waren die Auswirkungen des steigenden Konsums auf dem Obst- und Gemüsegroßmarkt in Neapels Stadtteil Vasto: Etwa dreißig Prozent der italienischen Obst- und Gemüseexporte wurden durch diese schäbige Umgebung geschleust. Während andere Gegenden Italiens je nach Jahreszeit auf den Handel mit ein oder zwei Feldfrüchten spezialisiert waren, gediehen im überaus fruchtbaren Hinterland von Neapel das ganze Jahr über Früchte in Hülle und Fülle. Die frischen Tomaten, Zucchini, Kartoffeln, Pfirsiche und Zitronen, die jedes Jahr in der Region geerntet wurden, waren an die 16 Milliarden Lire wert (nach heutiger Rechnung etwa 225 Millionen Euro). Weitere 12 Milliarden Lire ( 167 Millionen Euro) wurden mit Walnüssen, Haselnüssen, Erdnüssen, Rosinen, Feigen und anderen Trockenfrüchten erwirtschaftet.
Trotz dieses Reichtums bot der Großmarkt in Neapel ein chaotisches Schauspiel. Als eines der wirtschaftlichen Nervenzentren der Stadt, direkt am Verladebahnhof gelegen und vom Hafen aus gut zu erreichen, bestand er lediglich aus einer Ansammlung von Stahlskeletthallen, deren rostiger Maschendraht und bröckelnder Beton noch immer von Kriegsschäden zeugten. Eine Vielzahl schäbiger Fahrzeuge rollte durch die bleibenden Pfützen im Schatten der Gebäude: Eselskarren und Lieferwagen, Handkarren und winzige Autos mit komischen, übergroßen Dachgepäckträgern – schwer beladen mit schwankenden Stapeln aus Lattenkisten voller Auberginen, Salatköpfe, Aprikosen und Kirschen. Der Markt wurde von wenigen beengten Büros aus verwaltet, einem Postamt und einigen Banken in den benachbarten Straßen. Es gab weder Fernschreiber noch Telefone. Geschäfte, ganz gleich wie groß, wurden auf den Gehsteigen der Via Firenze und des Corso Novara getätigt, von Mann zu Mann, unter bühnenreifen Ausrufen der Verachtung und Verwunderung. Hin und wieder, wenn sich ein ernsthafter Handel abzeichnete oder eine größere Rechnung zu begleichen war, pflegte ein reicher Gemüsehändler aus seinem Sportwagen zu springen, sich Haar und Anzug glatt zu streichen und die ehrerbietigen Begrüßungen von Vertretern und Arbeitern entgegenzunehmen.
1955 zeigte einer der berühmtesten Mordfälle der Zeit, was für eine mächtige und gefährliche Kaste diese Gemüsehändler in Wirklichkeit waren. Der Prozess der »neuen Camorra« hieß er, da man 1955 in Italien allmählich wieder das »C«-Wort in den Mund nahm. Für jeden, der genauer hinzusehen bereit war, belegte
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