Omka: Roman (German Edition)
wurde noch unbehaglicher. Sie gab sich Mühe, es nicht zu zeigen, und setzte sich. Der Tisch war sauber, unter der Teekanne brannte die kleine Kerze im Stövchen.
»Jetzt bin ich ein Fall«, dachte sie sich, als er ihr Tee eingoss, und fühlte sich plötzlich, als würde er unentwegt an ihr vorbeischauen, und ihre eigene Geschichte ärgerte sie. Nicht nur der Schwimmunfall und der Gedächtnisverlust. Sondern alles, das ihn dazu brachte, sie vor lauter Geschichte und Strukturen und Denkmuster nicht mehr zu sehen. Sie fühlte sich wie ein kleines Licht in einer Dornenhecke, die immer weiterwuchs und größer und dichter wurde, bis man schließlich nur noch einen schwachen Lichtschein wahrnehmen konnte. Da begann sie sich zu fürchten. Sie setzte sich und sie begannen, wortlos zu frühstücken. Er las die Zeitung, und Omka schaute ein paar Mal zu ihm, wenn er merkte, dass sie ihn ansah, lächelte er sie an und fragte, ob sie noch etwas wollte oder brauche. Irgendetwas in ihrer Brust wurde immer enger, und sie wollte diesem unerträglichen Zustand ein Ende bereiten.
»Josef«, sagte sie dann und begann zu stottern und zu stocken, verhaspelte sich ständig und sah dazwischen immer zu Boden.
»Es ist nicht so, wie du denkst … ich bin nicht nur Omka, ich meine, das ist mein Name, sondern ich habe noch etwas außer meiner Geschichte und meines Berufes und meiner Vergangenheit und meinem verlorenen Kind.« Sie sah zu Boden und dann Josef wieder an. »Ich möchte nicht, dass du nur das siehst. Ich weiß es selber nicht genau. Aber ich möchte, dass du mich siehst und … und mich erkennst. Mein Wesen.«
Er schaute verwundert auf und erinnerte sich plötzlich an zahlreiche Gespräche, die er mit seiner letzten Geliebten geführt hatte. Die Forderung, das tiefe Wesen eines anderen Menschen zu erkennen, erschien ihm immer schon unpassend, und er dachte insgeheim, dass es da nicht viel zu erkennen gäbe, sondern sich das Wesen eines Menschen schließlich in dessen Taten zeigte. Mit dem Sichtbaren umzugehen, dem, was da ist – damit konnte er etwas anfangen. Deshalb sagte er nur: »Ich weiß nicht, wie das geht.«
Omka sagte einen Moment lang nichts. Sie drehte sich weg und ließ den Kopf hängen. »Du willst nicht«, sagte sie. »Es interessiert dich einfach nicht.«
Sein Blick fiel auf eine Kante mit einem bunten Buchstaben darauf, einem »S«, die unter dem Sofa herauslugte.
»Was soll das jetzt?«, fragte er und besann sich gleich darauf wieder. »Schwangerschaft – Alles, was Sie wissen müssen«, fiel ihm ein und dazu unpassenderweise, dass es kein Buch mit dem Titel »Schwangerschaft – Freuen Sie sich nicht zu früh!« gab. Er musste schmunzeln.
Omka sah ihn kritisch an. »Was ist?«, fragte sie.
»Liebste«, sagte er, »hör zu: Ich kann dir Frühstück machen, ich kann mich um dich kümmern, ich kann dich trösten, wenn es dir nicht gut geht, ich kann alles Mögliche machen, und das kann ich deshalb, weil ich weiß, wie es geht. Ich habe aber ehrlich gesagt keine Ahnung, wie man das tiefste Wesen eines Menschen erkennt.«
Omka wurde traurig. »Weißt du was«, sagte sie dann leise, »manchmal denke ich mir, ich habe gar keine Seele.«
Josef wurde wütend. »Weißt du was?«, sagte er, »red doch nicht so einen Blödsinn. Weißt du, was passiert ist? Du hast eben unser Kind verloren. Dr. Ragin hat gesagt, dass das einem Viertel der Frauen so geht und dass das gar keine konkreten Gründe haben muss, es ist also niemandes Schuld. Du kannst nichts dafür und ich auch nicht, und wir haben alles getan, damit du eine problemlose Schwangerschaft hast, und hätten uns auch auf das Kind gefreut, aber jetzt ist es so, wie es eben ist. Du bist ansonsten gesund, obwohl deine Nerven im Moment wahrscheinlich nicht die besten sind, was nur verständlich ist angesichts der Tatsache, was du alles durchgemacht hast. Wahrscheinlich war das Kind klüger als wir, und es war wirklich noch nicht der richtige Zeitpunkt.« Eine Zeit, die so lange dauert, wie ein Wassertropfen braucht, um vom Eiszapfen auf den Boden zu fallen, passierte nichts. Omka sah ihn erstaunt an. Dann presste sie die Lippen aufeinander, ihr Gesicht wurde hässlich und bleich, und sie begann zu zittern.
»Doch!«, schrie sie dann, »es war der richtige Zeitpunkt, es war alles gut und so wie es sein sollte, und ich habe es mir gewünscht, und jetzt ist es nicht mehr da, und ich hätte alles getan, alles, damit es ihm gut geht! Andere Leute bringen
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