Omka: Roman (German Edition)
schämen und insgeheim zu verachten. »Aber nein«, dachte sie sich und verwarf die ganzen beschwerenden Gedanken. »Du steigerst dich nur in etwas hinein.« Es war, als hätte sie eben ein sinkendes Schiff verlassen, und war jetzt froh, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Außerdem fühlte sie sich, als wäre sie an einem geheimen, verbotenen Ort. Ihren Eltern hatte sie noch nicht Bescheid gesagt, sie hatte sich aus etwas herausgestohlen und sich in der letzten Nacht dem Mann, mit dem sie lebte, aufgezwungen, hatte ihn rücksichtslos verführt, nachdem er gesagt hatte, er sei sich nicht sicher, ob er absichtlich ein Kind mit ihr zeugen wollte.
Bei diesem Gedanken war ihr, als würde sie aus dem Meer auftauchen, und sie bekam wieder Luft.
Die ganze Zeit, seitdem Omka beim Frühstück die Beherrschung verloren hatte, hatte er darüber nachgedacht, wie es jetzt wohl weiterginge. Bestimmt musste sie bei der Arbeit anrufen und Bescheid sagen, denn das, was mit ihr passiert war, verändere die ganze Sache natürlich gewaltig. Da sie nun keine Aussicht mehr auf Mutterschutz hatte, musste sie nach ihrer Bildungskarenz wohl wieder normal zur Arbeit gehen. Sie hatte noch niemanden angerufen, weder ihren Vorgesetzten noch ihre Freunde. Ihre Eltern wussten wohl immer noch gar nichts über ihre Situation. Er war verwundert darüber, dass sie offenbar nicht einmal nach ihr fragten. Das alles anzusprechen schien ihm aber eindeutig fehl am Platz, und sie sagte auch nichts. »Du zerbrichst dir ständig meinen Kopf«, hatte Omka ihm einmal gesagt. Seit dem Frühstück war sie wortkarg und distanziert gewesen. Er setzte Kaffee auf. Im Haus gab es leise Geräusche – es knackte, summte und flirrte, die Platte, auf die er die kleine italienische Kaffeemaschine gestellt hatte, zischte. Omka kam die Treppe herunter. Sie trug ihr weißes Nachthemd und darüber einen Morgenmantel. Bei jedem Schritt sah er ein Stück ihrer Fesseln. Sie hatte offenbar gute Laune, und in ihrem Blick lag etwas Triumphales.
»Guten Morgen«, sagte er. »Du scheinst dich zu freuen. Das ist schön«, und küsste sie.
Sie lächelte.
»Warte«, sagte sie, »ich mache uns Frühstück.«
Kapitel VI Kirche
Omka verlor noch drei Kinder. Jedes Mal wurde sie ins Krankenhaus gebracht und medizinisch nachversorgt, bekam Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und zweimal musste man die Gebärmutter ausschaben, weil die aufgebaute Schleimhaut sich nicht von selbst löste. Im Krankenhaus bat man sie, sich die Ultraschallbilder anzusehen, weil das wichtig sei, um mit dem Vorgefallenen umzugehen, und man bot ihr die Möglichkeit, die Kinder zusammen mit Josef zu begraben, aber sie lehnte ab. Verzweifelt suchte sie nach einer Erklärung für das, was passiert war. Das Gefühl des Mangels war wie eine runde, flache Stelle in ihrem Inneren, dort, wo eigentlich etwas sein sollte – das Herz oder etwas Ähnliches, dachte sie sich, um sich selbst im nächsten Moment furchtbar leidzutun. Mehr und mehr verlor sie den Glauben daran, dass sie etwas Eigenes besaß oder jemand Eigenes war. Josef hatte ihr einmal gesagt, dass er etwas Kühles, Berechnendes an ihr gefunden hatte und dass er glaube, dass es nicht zu ihr gehöre. Daraufhin hatte sie gesagt, dass etwas Kühles, Berechnendes immerhin etwas sei. Und dass sie es nicht absichtlich tat. Der Traum mit der Möwe fiel ihr wieder ein und das eiskalte Wasser, das sich nach und nach wärmer anfühlte, und dass sie dann wusste, dass das ihr Ende war. Ihre Gleichgültigkeit darüber machte sie nachdenklich und traurig. Josef umsorgte sie, aber seine Teilnahme und sein stilles Mitleid ärgerten Omka, denn sie kamen ihr irgendwie unehrlich vor, weil er kein einziges Mal sagte, wie er sich fühle, denn schließlich waren es auch seine Kinder gewesen. Als betrachte sie sich ständig selber aus der Ferne, hatte sie den Eindruck, etwas sei unecht oder gelogen, sie wusste aber nicht, was. Sie fühlte sich sicher und wurde ruhiger, wenn sie etwas gegen seinen Willen tat, sich ihm aufzwang und merkte, dass er nachgab, dass er tat, was sie wollte, und sie sich fühlte, als stehe sie über ihm und alles läge in ihrer Hand. In diesen Momenten, wenn es Nacht war und sie sein Gesicht mit der Hand niederdrückte, überkam sie immer die Vorstellung, sie würde etwas atmen hören, leise, aber schwer und unregelmäßig, und hielt manchmal inne, um angestrengt hinzuhören. Dann wurde das Atmen vielstimmig, so als würden mehrere
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