Omka: Roman (German Edition)
hinter ihren Lidern. Als sie die Tür öffnete, hastete er herein – offensichtlich war er in Eile. Er fragte sie kurz, wie es ihr ginge, entschuldigte sich, er habe es eilig und würde nicht ablegen, er käme nur, um das Kind mitzunehmen, und fragte, wo es sei. Omka sagte, Jonas würde schlafen; Josef sah etwas erstaunt auf die Uhr und sagte, er könne leider nicht warten, bis er von selber aufwachen würde, und ging schnellen, aber leisen Schrittes zum Sofa. Omka folgte ihm ebenso leise. Es atmete wieder, und sie war sich sicher, es genau zu hören, es wurde lauter und lauter. »Es wird mich noch zugrunde atmen«, dachte sie verärgert, als Josef sich zu dem Kind bückte, erschrocken hochfuhr und sich zu Omka umdrehte, die eine Hand ausgestreckt hatte, in der sie das kalte, schwere Ding hielt. Josef sah sie ungläubig an. Er hatte keine Möglichkeit zu verstehen, was gerade passierte, weil in seinem Kopf kein Muster war, in das nur annähernd hineinpasste, was er gerade sah. Nur die Möwe fiel ihm ein und der Fluss, Omkas Finger, die sich um den Hals gelegt hatten, und die kurzen Federn, die zwischen ihren Fingern herauslugten. Dann drückte Omka ab, und Josef fiel um. Er fiel rücklings und blieb halb auf dem Sofa liegen und halb am Boden. Der grauweiße Bettbezug sog sich voll Rot. Und als sie Jonas und Josef zusammenliegen sah in dieser unmöglichen Position in diesem verdreckten Bett, war sie zufrieden und wusste nicht, warum. Jonas lag mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund da, die helle, ebenmäßige Haut nur an einer Stelle an der Schläfe verfärbt, das wattige Haar und die kindlichen Züge glichen dem Gesicht seines Vaters, dessen Wange auf seiner Brust lag, die klaren, dunklen Augen und den Mund geöffnet, als wollte er seinen Geist aushauchen, eine Hand hing seitlich vom Sofa, die Beine waren verdreht. Omka stand still. Sie überlegte nicht mehr. An der Wand standen die Kanister mit dem Nitroverdünner. Sie schraubte die Deckel ab, kippte sie um und der Teppich tränkte sich mit dem beißend gutriechenden Pinselreiniger. »Ich habe sie totgeweint«, sagte sie voll Pathos, als sie den Teppich anzündete und aus der Wohnung lief, das kalte, schwere Ding in der linken Hand, lief sie auf die Straße. »Ich habe sie totgeweint.«
Hinter ihr knallte es laut und sie hörte das Fauchen des schnellen Feuers, die Flammen schlugen aus den Fenstern.
Der Drachenwagen rollt an. »Jetzt gehört es mir«, denkt Omka. Sie fühlt sich, als hätte sie jahrelang im Koma gelegen und wäre in diesem Moment aufgewacht. Alles ist neu, frisch und schrecklich schön. Die guten Ratschläge von Josef ziehen an ihr vorbei, die Hilfe und Enge. Ihre Augen weiten sich, ihr Herz schlägt bis zum Hals, die beiden Drachen vor ihr schlagen die Klauen in die Wolken. Omka lacht und hebt die Hand zum Himmel, drückt ab und es kracht laut. Alle Leute auf der Straße ducken sich und reißen die Köpfe zu ihr herum. Der Himmel ist grau, man sieht kein einziges blaues Fenster darin. Das Gefühl von Gegenwart und davon, dass alles möglich ist, wenn das, was jetzt gerade passiert, auch möglich ist, lässt sie laut auflachen. Sie lacht unbeherrscht, unweit von ihr sucht ein alter Mann Schutz hinter einem großen Container mit rotweißen Streifen, er hat einen Hund bei sich, der nicht mit ihm hinter den Container will und an der Leine zieht. Sie zielt auf ihn und drückt ab, sieht ihn fallen und denkt wieder ans Meer. Sie hat keine Angst. Jemand hat anscheinend gehört, dass sie laut: »Ich gehe zurück, ich gehe jetzt zurück!« geschrien haben soll, was aber nicht bestätigt wird. Später wird der alte Mann sagen, dass es Gott war, der die Kugel an seinem Kopf vorbeizog und nur die Haut dabei aufschürfte.
Omka läuft weiter. Auf die Straße fallen dunkle Tropfen, die immer mehr werden. Ihre Mutter fällt ihr ein, die immer gesagt hatte, wie glücklich sie mit ihrem Vater gewesen war und wie sehr sie ihn immer geliebt hatte und wie viel Mühe sie sich immer gegeben hatte, und Wut ergreift sie, sie reißt die Hand herum und sieht auf die andere Straßenseite, wo sie auf eine Frau schießt, die ihre Einkaufstaschen fallen lässt, aus denen runde, orange Früchte auf die Straße rollen und die Frau selbst auf die Straße fällt. Die wahre Geschichte hatte sie viel später erfahren. Ihre Mutter hatte sie in ihrem Bauch verstecken wollen, solange es ging. Sie war von zu Hause fortgelaufen und durch Russland gereist. Als
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