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On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)

On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)

Titel: On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Birr
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merken.«
    Die Lehrerin nickte zustimmend.
    »Eine Packung für mich«, sagte ich und nahm mir selbst eine Packung Gummibärchen aus der Trommel. »Ja, so ist das. Wenn ihr die Antwort nicht kennt, krieg ich eine Packung, und wer am Ende die meisten hat, kriegt den Hauptpreis.«
    »Und was ist der Hauptpreis?«, fragte jemand.
    »Das werdet ihr dann schon sehen.«
    »Die dürfen noch keinen Alkohol«, rief die Lehrerin. »Die sind noch nicht alle sechzehn.« Offensichtlich hatte sie Erfahrung mit saufenden Minderjährigen. Oder mit Schnaps verteilenden Stadtbilderklärern.
    Ich versuchte, eine allgemeine Einführung zu geben:
    »Man muss sich für die Geschichte Berlins eigentlich nur zwei Daten merken. Das ist einmal 1987, da hat Berlin nämlich 750 Jahre Stadtgründung gefeiert. Wann ist Berlin also gegründet worden?«
    Niemand reagierte.
    »Na, das sollte jetzt aber jeder wissen.«
    Super Satz. Ich habe ihn als Schüler auch immer geliebt. Wird nur übertroffen von: »Ich seh immer die gleichen Hände.« In den mittleren Reihen rechnete ein Junge angestrengt mit den Fingern. Ein Mädchen meldete sich.
    »Nicht melden, einfach reinrufen.«
    »1237«, sagte das Mädchen.
    »Richtig, 1237. Einmal Gummibärchen für –?«
    »Nadine.«
    »Für Nadine. Sehr schön hast du das gemacht.«
    Die Klasse lachte.
    »Klasse, Achtung!«, rief ich. »1987 ist deshalb wichtig, weil in Berlin, und zwar in Ost und West, damals sehr viel wiederaufgebaut, restauriert und eingeweiht wurde. Wenn man nicht genau weiß, wann dieses oder jenes Gebäude wieder hergerichtet wurde, dann hat man mit 1987 eine Trefferquote von fünfzig Prozent. Super, was?«
    »Jaja, echt super, Alter«, sagte jemand. Ich fuhr fort:
    »Das andere Datum ist der Mauerfall. Der war wann?«
    »Neunzehnhundertneunundachtzig«, kam es gelangweilt aus sechzig Kehlen. Ich war erstaunt.
    »Na so was! Habt ihr das mit dem Rohrstock eingeprügelt bekommen?«
    »Wir hören seit drei Tagen nichts anderes«, sagte ein Junge im Napalm-Death-T-Shirt. »Außerdem hat unsere Lehrerin uns das schon drei Wochen vor Abfahrt jeden Tag erzählt.«
    »Genau«, rief sein Sitznachbar. »Dauernd Geschichten von Grenzkontrollen und Autodurchsuchungen. Wir hams mittlerweile verstanden.«
    »Sie müssen wissen«, sagte die Lehrerin, »ich hab in den Siebzigern in Westberlin studiert.«
    »Das sagt sie zu jedem Fremdenführer«, flüsterte ein Junge in der ersten Reihe mir zu.
    »Da habt ihr ja noch Glück gehabt«, gab ich zurück. »Als ich in der Grundschule war, hat meine Lehrerin uns immer von Bombenangriffen und Lebensmittelrationierung erzählt. Und von Judendeportationen, von denen sie aber nichts gewusst hat.«
    »Wir gehen aber schon Gennasium«, rief es von hinten.
    »Wir mussten alle wichtigen Daten aufsagen können«, sagte der Napalmdeathler. »Dreiunddreißig, fünfundvierzig, neunundvierzig und neunundachtzigneunzig.«
    Der Junge mit dem Fußballschal begann zu singen: »Vierundfünfzig, vierundsiebzig, neunzig, zwaaaitausendzeeehn, ja so stimmen wir alle ein!«
    Keiner lachte.
    »Gut, weiter gehts«, sagte ich.
    »Moment mal! Wir kriegen erst noch Belohnung«, tönte es von hinten. Natürlich: Ihr geht Gennasium und kriegt Belohnung. Vielleicht hätte ich besser Präpositionen und unbestimmte Artikel statt Gummibärchen verteilen sollen. Ich griff in die Trommel und warf die Packungen dutzendweise in die Schülerhorde. Sofort fing die Menge wieder an zu brodeln.
    »Da vorne das Ding mit der Glaskuppel, das ist was?«
    »Reichstag«, sagten einige. Ich warf mit Gummibärchen, obwohl ich meinte, aus dem Gangsterblock auch » KZ « gehört zu haben.
    »Reichstag ist richtig. Der wurde in den 1890er Jahren eröffnet und wurde im Krieg schwer beschädigt. Danach hat man ihn wiederaufgebaut, und 1995 wurde er von einem berühmten Künstler verpackt. Weiß jemand, wie der hieß?«
    Schweigen im Walde.
    »Na, kommt schon! Der ist bekannt, den kennt doch jeder! Ich geb euch einen Tip: fängt mit C an.«
    »Churensohn«, kam es aus dem Gangsterblock.
    Vielleicht sollte ich irgendwann auch Bestrafungen verteilen.
    Ich imitierte ein Achtzigerjahre-Gameshow-falsche-Antwort-Geräusch:
    »Krrrrrk! Churensohn ist leider falsch. Der Herr hieß Christo. Packung für mich.«
    »Und mit Nachnamen?«, fragte Nadine.
    Verdammt. Das wusste ich auch nicht.
    »Äh …«, ich stockte kurz. »Die wirklich wichtigen Künstler brauchen keine Nachnamen. Michelangelo zum Beispiel. Oder Raffael. Oder

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