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On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)

On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)

Titel: On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Birr
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peinlich sei, aber nun sei er ja da, und der Laden gefalle ihm ausnehmend gut.
    »Und meine Freundin konnte nicht mitkommen, die hat gerade Prüfungsstress. Die studiert gerade fertig.«
    »Wie alt ist sie?«
    »So in unserem Alter, Mitte zwanzig.«
    »Hast du nicht gesagt, du wärst 45?«
    »Ach so, ja. Das vergesse ich gern mal.«
    Anna tauchte auf:
    »Ich stell euch mal jemanden vor, kommt mal mit.«
    »Da bin ich ja mal gespannt«, sagte Karl und grinste.
    Wir folgten Anna über eine Treppe nach oben. Neben der Bar stand ein Flipperautomat. Darüber lehnte ein Hüne in schwarzer Uniformjacke, mit langen schwarzen Haaren und Wellington-Bart. Jemand, den man auf gar keinen Fall beim Flippern stören sollte. Anna fasste ihn am Arm.
    »Lemmy! These are my friends. This is Tilman and this is …«
    »Karl«, sagte Karl.
    »Oh great! Friends of Anna’s are friends of mine!«, sagte Lemmy Kilmister.
    Lemmy Kilmister! Für diejenigen, die die letzten dreißig Jahre auf dem Mond verbracht haben: Ian Fraser Kilmister, genannt Lemmy, Bassist und Sänger von Motörhead, geboren an Heiligabend 1945, ist wohl der einzige echte Rock ’n’ Roller, den es je gegeben hat. Sein Blut würde jeden anderen Menschen töten, so wie er von frischem Blut getötet werden würde. Er ist Diabetiker und trinkt eine Flasche Jack Daniels am Tag. Er hat jede Droge der Welt genommen, außer Heroin, das laut Lemmy die einzige ist, an der man sterben kann. Als ihm gesagt wurde, dass LSD nicht an zwei aufeinanderfolgenden Tagen wirken würde, hat er herausgefunden: oh doch! Wenn man die Dosis verdoppelt, wirkt es.
    Lemmy spielt seit 35 Jahren bei Motörhead. Nein, falsch. Er spielt nicht bei Motörhead, er ist Motörhead. Viele Wendungen hatte die Band genommen, von der Viermanncombo zur Dreimanncombo, Schlagzeuger hatten sich kaputtgeprügelt, Gitarristen hatten dem Tempo nicht standgehalten und mussten aussteigen. Jahre des schleppenden Erfolgs, in denen die Band von der Hand in den Mund gelebt und nicht mehr besessen hatte als ihre Instrumente und einen Koffer, gingen über in die heutige Zeit des späten Ruhms, der großen Hallen und des Kultstatus. Was sich aber nie groß verändert hatte, war die Musik. Judas Priest, Metallica, Saxon: Alle haben in den Neunzigern gedacht, sie müssten jetzt etwas anderes machen, müssten mehr Pop oder mehr Speed reinbringen, denn »nur wer sich weiterentwickelt, bleibt sich treu«. Alles Quatsch! Motörhead hatten auf den Zwang zur Weiterentwicklung geschissen, weil sie ihre Musik liebten und sich dachten: Wir machen hier, worauf wir Bock haben. Wenn es euch nicht gefällt: Uns doch egal! Bei diesem verkopften Avantgardequatsch hatten Motörhead nie mitgemacht. »We are Motörhead, and we play Rock ’n’ Roll«, sagt Lemmy bis heute, wenn er auf die Bühne kommt, und nicht »We are Motörhead. Und wir wollen uns nicht in so ’ne Schublade stecken lassen.« Naked chicks in cages, burgers and beer!
    Alle, die zur gleichen Zeit wie Motörhead bekannt geworden waren, hatte man schon verlacht. »Wenn man zu alt wird, sollte man irgendwann aufhören« war die allgemein akzeptierte Meinung über Iron Maiden, Ozzy Osbourne oder Alice Cooper. Nie hatte es irgendjemand gewagt, Lemmy den Rückzug in den Ruhestand nahezulegen. Für ihn musste der Spruch »Live fast, die young« in »Live fast, die old« geändert werden. Über Motörhead lachte niemand, wahrscheinlich aus Angst vor dem Gitarristen Phil Campbell, einer walisischen Autoschiebervisage, dem man nicht in einer dunklen Gasse des Stahlarbeiterviertels von Swansea begegnen möchte. Auch Lemmy ist eine respekteinflößende Person. Jeder andere, der in Cowboystiefeln, Uniformjacke und preußischem Schwarzen Adler auf dem Westernhut durch Neukölln gelaufen wäre, wäre nach zehn Minuten Opfer migrationshintergründlerisch-jugendlichen Schabernacks geworden. Lemmy ist kein gewalttätiger Mensch. Trotzdem ist er der einzige Brite, der im Pub nach elf noch etwas zu trinken bekommt, weil sich niemand traut, ihm zu sagen, dass der Laden jetzt zumacht.
    Und dieser Lemmy Kilmister stand vor mir, reichte mir eine Flasche Jack Daniel’s und sagte: »Drink!«
    Den Anordnungen des Personals ist Folge zu leisten.
    »Thanks«, sagte ich, nahm einen Schluck und reichte die Flasche an Karl weiter. Der nahm auch einen Schluck und gab die Flasche Lemmy zurück. Lemmy aber sagte: »Keep it«, griff in einen Karton, der neben dem Flipperautomaten stand, und holte zwei weitere

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