On se left you see se Siegessäule: Erlebnisse eines Stadtbilderklärers (German Edition)
gedacht, in Berlin da gibts doch so viele Clubs. Irgendwas Angesagtes, mit coolen Leuten und Musik. Am besten Electro, verstehsch.«
Electro. Dieser Trendspaß im monotonen Umpfsound hatte es offensichtlich bis nach Baden geschafft. In Berlin hatte er sich schon in alle Lebensbereiche gefressen wie die Treue zum Geliebten Führer in Nordkorea und der Nationalismus in einem Land, das mit -stan aufhört. Klassische Wochenendfrage eines beliebigen Bekannten: »Kommst du heute Abend mit nach Kreuzberg/Friedrichshain/in so ein stillgelegtes Heizkraftwerk in Köpenick? Da ist Eröffnung von einem Projektraum/ein Poetry Slam zum Thema Asylrecht/die Insolvenzeröffnung meiner Galerie/eine Bewährungsanhörung/ein guatemaltekisches Kurzfilm- und Ausdruckstanzfestival, und danach legt noch ein Electro- DJ auf.«
In den Siebzigerjahren ging dieser Witz herum: Wie kommt man an einen Starfighter? Einen Hektar Land kaufen und warten. Ähnlich ist es mit Electromusik in Berlin. Wie lässt sich eine gleichgeschaltete Masse junger Menschen herstellen? Eine Musikanlage mit Electro auf die Straße stellen und warten. Auf der Friedrichshainer Modersohnbrücke, einem eigentlich hässlichen Ort mit Blick über viele Kilometer Gleisbett, stehen im Sommer zweihundert Leute mit Fliegenaugensonnenbrillen auf der Nase um einen Electro- DJ herum und hüpfen, bis die Brücke knarzt. Wenn im Winter die Rummelsburger Bucht zufriert, stellt sich ein DJ aufs Eis, und hundert Studenten stehen davor und wackeln mit ihren Extremitäten. Das werden die so lange machen, bis sie durchs Eis brechen oder die Brücke einstürzt. Dann kommen Tausende trauernder Electrofreunde und machen aus dem massenhaften Unfalltod das, was ihnen am besten gefällt: einen Event. Sie stellen Kerzen auf, legen Kuscheltiere an der Unfallstelle ab, stehen stundenlang herum und umarmen einander, und was auf gar keinen Fall fehlen darf, ist das Pappschild mit der roten Aufschrift: »Warum?« Ja, warum wohl! Weil sie auf Hängebrücken und zu dünnen Eisdecken herumgehüpft sind, darum! Und das hat man vom Electro!
»Entschuldigung, Jungs«, fragte ich die beiden. »Hab ich euch da richtig verstanden? Ihr wollt in einen ›Club‹ und ›Electro‹ hören?«
»Ja, klar. Wir wollen auch net so touristisch unterwegs sein. Sag uns doch einfach, welcher Club in Berlin gerade der angesagteste ist.«
»Ihr meint das wirklich ernst, oder?«, sagte ich. »Clubs! Ich kann nicht glauben, dass da wirklich noch jemand hingehen will. Ihr seid doch junge Burschen, und ihr wollt so eine abgeschmackte Unterhaltung? Das ist so was von Neunziger! Was es hier noch an Clubs gibt, ist alles nur Fake und Touristenverarsche. Da geht doch kein einziger Berliner mehr hin.«
Die beiden guckten mich an, als hätte ich ihnen gerade gesagt, ich wüsste, wer Kennedy erschossen hat. Der Stille war sogar so erstaunt, dass er nun auch den Mund aufbekam, allerdings nicht zum Reden, sondern nur, um seinen verdutzten Blick mimisch zu untermauern.
»Die Disco – oder der ›Club‹, wie ihr es nennt – als Begegnungsort der städtischen Jugend hat ausgedient«, begann ich ihnen die Situation zu erklären. »Die jungen Menschen haben sich voneinander entfremdet, ja manche sogar von sich selbst. Ist euch schon mal aufgefallen, dass man sich in keiner dieser Trenddiskos mehr unterhalten kann? Da kann man doch niemanden kennenlernen.«
»Also unter uns«, sagte der Chefbadener. »Ich hab schon in der ein oder anderen Disko eine Frau kennengelernt.«
»Und als sie auf deinem Bett gesessen und zum ersten Mal den Mund aufgemacht hat, hast du gedacht: Mann, ist die dämlich.«
Er räusperte sich und guckte nach unten.
»Siehst du. Wir lehnen das ab. Die Stadt macht uns wahnsinnig, krank und aggressiv. Jeden Tag müssen wir das Gerattere von Autos und Straßenbahnen ertragen, gehen in Menschenmassen unter und trinken überzuckerte Brause, die uns dick und dumm macht. Und dann rennen wir auch noch in den Club, um dort das Gleiche zu erleben. Warum eigentlich? Entschleunigung und Begegnung, das ist das neue Ding. Wenn du das mitgemacht hast, wirst du eines feststellen: eine Frau, mit der man sich wirklich gut unterhalten hat, mit der macht es auch im Bett viel mehr Spaß.«
»Pfff …«, sagte der Badener. »Du redsch wie mein Opa.«
»Vielleicht hat dein Opa recht. Und Musik aus der Konserve gibt es bei uns auch nicht. Nur Livemusik ist legitim.«
»Aber was macht man denn dann, wenn es da keine Musik gibt? Wo
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