Ondragon - Menschenhunger
dessen Schulter und erkannte darunter eine tiefe Bissspur im weißen Fleisch. Er schnaufte vor Entsetzen und Abscheu. Welches perverse Schwein hatte diesen armen Mann so zugerichtet und dann wie ein ausgeweidetes Reh an den Baum gehängt? Mit zitternden Knien entfernte er sich von dem Leichnam und wischte seine Hände am Gras ab. An einen Baum gestützt, erholte er sich langsam von dem Anblick, und die Zentrifuge nahm ihren Dienst wieder auf. Er hatte in seinem Leben schon viele schreckliche Dinge gesehen, aber das hier übertraf alles! Am ganzen Körper bebend griff er in seine Hosentasche. Kein Handy! Mist! Wahrscheinlich lag es noch in seinem Nachttisch. Er blickte in das freie Stückchen Himmel hinauf, das hier an der Lichtung zu erkennen war. Die Sonne war weiter dem Horizont entgegengesunken. Auch wenn er sie selbst nicht sehen konnte, verriet ihr rötliches Licht doch, dass es nicht mehr lange bis zur Dämmerung war. Ondragon zwang sich zum Nachdenken. Vom bear’s den aus waren sie hauptsächlich nach Westen gegangen, also musste die Lodge in östlicher Richtung liegen. Nur, wo genau war Osten? Ondragon schaute vom Himmel in den Wald und vermied es, dabei auf Lyme zu sehen. Es waren geschätzte sieben oder acht Meilen bis zur Lodge. Das würde er joggend in einer Stunde schaffen, vorausgesetzt er kannte den Weg! Mit einer fahrigen Bewegung rieb er sich die brennenden Augen. Es war wie verhext, hier im Wald konnte er einfach nicht richtig denken! In der Stadt oder in freiem Gelände wusste er jederzeit instinktiv, wo er sich befand. Er kannte die Himmelsrichtungen, an denen er sich selbst mitten in L.A., Bangkok oder Tokio orientierte. Und ja, er wusste auch, wo er nachts den Polarstern am Himmel finden konnte. Aber hier in diesem Kraut, wo man keine freie Sicht auf den Horizont hatte, war sein Orientierungssinn so gut wie ausgeschaltet. Wütend hieb er mit der Faust gegen den Baumstamm. Flechtenstaub stob auf und rieselte zu Boden. Apropos Flechten. Darüber hatte er doch mal etwas gelesen. Wuchsen diese Flechten nicht vorwiegend an der Nordseite von Baumstämmen? Ondragon kontrollierte weitere Stämme. Tatsächlich war die grünliche Schicht der symbiotischen Gewächse immer nur auf einer Seite stark ausgeprägt. Er blickte auf, wenn Norden genau in seinem Rücken lag, dann war Osten zu seiner Linken. Und wenn er jetzt in diese Richtung ging, würde er hoffentlich bald an dem Moose Lake stoßen, der ihn wiederum zur Lodge führte. Er prüfte seine Waffe. Mit ihr war alles in Ordnung, er hatte noch alle sieben Schuss. Da es langsam kühl wurde, zog er sich seinen Kapuzenpulli über und machte sich auf den Weg.
Überall, wo der Boden eben und frei von Unterholz war, joggte Ondragon, aber stets mit erhobenem Kopf und aufmerksam um sich spähend. Als er eine gefühlte Meile zwischen sich und dem Ort mit Lymes Leiche gebracht hatte, blieb er kurz stehen und wagte einen ersten Hilferuf.
„Kateri?“ Seine Stimme klang müde und kraftlos, doch er versuchte es nochmal. „KA-TE-RI!“ Nichts als sein Echo kam zurück. Wo stecke sie nur? So weit konnte sie doch gar nicht von ihm entfernt sein. Er probierte es mit den anderen Namen: „Pete! Frank! Julian! Ist hier jemand?“ Doch es blieb unheimlich still inmitten der hohen Fichtenstämme. Ondragon ließ die Schultern hängen. Als ob sie alle vom Erdboden verschluckt worden waren. Er lief weiter. Nach einer Weile blieb er erneut stehen. Er war völlig außer Atem, litt Hunger und Durst, und außerdem beschlich ihn das vage Gefühl, er würde sich in die falsche Richtung bewegen. Er prüfte die Flechtenschicht an den Stämmen. Aber es stimmte, er hielt sich noch immer strikt im rechten Winkel zu ihnen, genau nach Osten. Doch vielleicht war er zu weit nördlich abgedriftet und verfehlte den See. Er sah auf die Uhr. Verdammt, schon neun Uhr! Wie konnte die Zeit so schnell vergehen? Jetzt hatte er höchstens noch eine Stunde bis zum Einbruch der Dunkelheit. Der Gedanke, bei Nacht hier herumzutappen, mit einem durchgeknallten Killer in der Nähe, war nicht besonders verlockend und verursachte ihm schon wieder Schweißausbrüche. Auch seine Kopfschmerzen waren bis zur Unerträglichkeit angeschwollen. Schnell nahm Ondragon drei kleine Schlucke aus der Flasche. Das Moorwasser schmeckte torfig, wusch aber die noch viel schlechtere Erinnerung an Blut und Eingeweide von seiner Zunge. Nachdem er wiederholt um Hilfe gerufen hatte, setzte er sich mehr hinkend als joggend in
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