Ondragon - Menschenhunger
hob Ondragon seine Pistole und spähte in den Wald. Woher war das gekommen? Lange brauchte er nicht zu überlegen, denn er entdeckte eine neue, noch viel beunruhigendere Spur. Dankbar für den Adrenalinstoß, den seine Nebennieren augenblicklich durch seine Adern pumpten, lief er los, immer entlang der frischen Blutspur, die feucht im Gras glänzte.
„Lyme?“, rief er. „Wo sind Sie?“ Seine Befürchtungen verdichteten sich noch, als er das Wimmern ein weiteres Mal hörte.
„Lyme, so sagen Sie doch etwas!“ Ondragon bemühte sich, jede Richtung im Auge zu behalten. Er wollte vorbereitet sein, wenn sich ihm etwas näherte.
„Kateri? Bist du hier irgendwo?“
Zur Hölle, wo war sie nur?
Sein Fuß traf auf etwas Nachgiebiges, Feuchtes, und er geriet ins Schlingern. Er konnte seinen Sturz an einem Baumstamm abfangen und blickte zurück auf den Boden. Der Schweiß gefror auf seiner Haut. Wie eine silbrig glänzende Schlange lag da ein Stück Gedärm im Gras. Er war darauf getreten und ausgerutscht, dabei war der Darm aufgerissen und gab seinen bräunlichen Inhalt frei.
Mit einem gefährlichen Schlingern im Magen folgte Ondragon dem sich schlängelnden Eingeweide und … seine böse Ahnung wurde erbarmungslose Realität. Unwillkürlich presste er eine Hand vor den Mund, während er die apokalyptische Szenerie beobachtete.
Das Eingeweide führte zu einem Baum. Zu Lyme.
Blutüberströmt und mit zerfetzter Kleidung hing der Makler dort. Aus seiner offenen Bauchhöhle baumelten die Gedärme wie groteskes Absperrband, mit dem jemand bereits den Tatort abgeriegelt hatte.
Ondragon blickte in Lymes fliegenübersätes Gesicht. Die Augen des Maklers waren schreckensweit und der Mund schmerzverzerrt. Blut, durchsetzt mit gelblichem Schleim, rann ihm zähflüssig aus dem Mundwinkel.
Trotz des Würgreizes, der sich wegen des Gestankes nach frischem Blut und Exkrementen in seiner Kehle manifestierte, trat Ondragon an den Toten heran, die Waffe im Anschlag. Dabei fiel sein Blick unweigerlich auf einen großen Stein, der vor dem aufgeschlitzten Körper lag. Darauf war etwas arrangiert worden wie auf einem Altar. Er betrachtete es näher. Der dunkelrote Klumpen sah aus wie eine Leber.
Jemand hatte davon abgebissen.
Ondragon bezwang seinen Ekel und richtete den Blick wieder auf Lyme.
Unvermittelt drang ein Wimmern an sein Ohr. Die Augenlider des Gemarterten begannen hektisch zu flattern. Sofort stob der Schwarm schwarzer Fliegen mit einem empörten Summen auf, ließ sich aber rasch wieder gierig auf den von frischem Blut glänzenden Eingeweiden nieder. Ondragon sah schockiert auf den Makler. Lyme war noch am Leben!
„Mr. Lyme!“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Sagen Sie mir, wer das getan hat!“
Doch der Makler verdrehte bloß die Augen und schloss die Lider. Ondragon trat neben ihn und rüttelte ihn an der Schulter. Lyme war sowieso nicht mehr zu retten, aber er musste wenigstens von ihm erfahren, wer oder was dieses schreckliche Gemetzel angerichtet hatte. Der Makler hob mühsam die Lider, seine Zunge formte Worte. Doch außer einem blutigen Schmatzen kam kein Laut aus seinem Mund. Wahrscheinlich war sein Zwerchfell zerstört, und die Lungen konnten nicht mehr vernünftig arbeiten. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war.
„Sagen Sie mir, wer das war. Nicken Sie zur Not. War es der Bär?“ Lyme bewegte den Kopf, aber man konnte nicht erkennen, ob es ein Nicken war. Seine Lider senkten sich schwerfällig. Ondragon rüttelte erneut.
„Lyme, bleiben Sie wach! War es ein Mensch?“
Lyme zuckte. Es war ein bizarres Schauspiel, so als würde er über die langen Fäden seiner Eingeweide ferngesteuert. Mit letzter Kraft versuchte er ein Wort herauszubringen.
„Endiiighh …“
„Was, Lyme? Strengen Sie sich an. Los doch!“, drängte Ondragon.
„Uendihghhhooo … mmmonsthhh …“
„Monster?“
Lyme ruckte mit dem Kopf, und Ondragon wurde eiskalt, obwohl um ihn herum sommerliche Temperaturen herrschten. Er wusste mit einem Mal, was der Makler ihm mitteilen wollte. „Sie meinen, es war … der Wendigo?“ Der Name der von den Indianern gefürchteten Bestie verhallte unheilvoll im Wald. Aber anstatt zu nicken, ging ein heftiges Zucken durch Lymes Körper, und als ein feuchtes Gurgeln aus seiner Kehle drang, ahnte Ondragon, dass dessen Herz den letzten Blutstropfen durch seine zerfetzten Venen gepumpt hatte und nun schwieg. Lyme war tot. Ondragon nahm seine Hand von
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