Ondragon - Menschenhunger
Stamm der Weißkiefer. Eine dunkle Pfütze getrockneten Blutes sammelte sich unter dem Halsstumpf des Tieres. Aber nicht nur der Kopf fehlte, auch die Klauen und Geschlechtsteile waren abgeschnitten worden. Der Kadaver war gehäutet, und ein dichter Schwarm Fliegen saß auf dem silbrig glänzenden Körper aus rohem Fleisch. Ihr Summen erfüllte die Luft und verursachte ihm eine unterschwellige Übelkeit. Ondragon räusperte sich und schob sich einen Kaugummi zwischen die Zähne. Der Pfefferminzgeschmack war wie kühles Eis auf seiner Zunge und half ihm, die Kontrolle über seinen Magen zu behalten. Bewusst langsam kauend beobachtete er, wie Dr. Schuyler seinen Fotoapparat auspackte und einige Fotos schoss. Sein Blick folgte mehr unbewusst als neugierig den Bewegungen des Medical Examiners, der auf einmal die Augenbrauen zusammenzog und näher an die Tierleiche herantrat. Sein Finger strich über die glatte Sehnenhaut, in der die Muskeln verpackt waren, wanderte zur Hinterkeule und hob den Kadaver an, so dass er sich vom Stamm löste. Schuyler betrachtete das Rückgrat des Tieres und schloss mit einem langgezogenen „Hmmmm“ seine Untersuchung ab.
„Also, sicher bin ich mir nicht“, sagte er schließlich, „aber ein Reh oder Hirsch ist das nicht. Vielleicht ein Raubtier, ein Puma oder Wolf. Allerdings sind die geschützt.“
Der Deputy schien sich dafür jedoch nur wenig zu interessieren, er hatte sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor Ondragon aufgebaut und starrte ihn an. Seine Polizeiabzeichen glänzten golden in der Sonne.
„Und deswegen sind wir hier zwei Stunden durch den Wald gekrochen?“ Er wies auf den Kadaver. „Also, wenn Sie mich fragen, sieht das eindeutig nach dem Werk eines Trophäenjägers aus. War wahrscheinlich scharf auf das Fell und die Zähne. Es gibt Leute, die dafür viel Geld bezahlen. Geschütztes Tier hin oder her.“
„Aber was ist dann mit Lyme?“, wandte Ondragon ein. „Wo ist er?“
„Hier jedenfalls nicht, wie Sie sehen können! Ich denke, Dr. Arthur wird sich um die Angelegenheit kümmern. Ich habe gehört, dass öfter mal Leute früher als geplant abreisen, ohne Bescheid zu sagen. Solch eine Psychotherapie verkraftet eben nicht jeder. Und in Ihrem Fall fürchte ich, dass Sie gestern wohl ein wenig überreagiert haben, Mr. Ondragon.“
Ondragon sah ihn zerstreut an. Konnte schon sein. Verstehen tat er es trotzdem nicht.
Der Deputy legte den Kopf schief und sprach mit einer falschen mitfühlenden Stimme weiter. „Aber das kann ja mal vorkommen, nicht? Besonders, wenn man …“
„… verrückt ist! Das wollten Sie doch sagen, oder nicht?“, fuhr Ondragon gereizt dazwischen. Er sprang von dem Felsen auf. „Hören Sie, Deputy. Ich habe gesehen, was ich gesehen habe, und das hier ist … ist … irgendwie falsch.“ Aufgewühlt fuhr er sich durchs Haar. „Ich habe mich noch nie geirrt!“
„Tja, dann ist es heute wohl das erste Mal! Eureka, Irren ist menschlich!“, sagte Hase mit einem sarkastischen Grinsen und wandte sich dann an seine Leute. „Schneidet den Kadaver vom Baum, sollen sich die Aasfresser um die Beseitigung kümmern. Und dann nichts wie weg von hier. Wir haben schon zu viel unserer wertvollen Zeit vertrödelt mit Mr. Ich-irre-mich-nie!“
„Seien Sie vorsichtig, was Sie sagen!“, protestierte Ondragon. Ihm reichte es. Dieser Bauerntölpel hatte doch keine Ahnung!
Doch Deputy Hase ließ sich dieses Mal nicht einschüchtern. Er beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm ins Ohr. „Nein, Sie werden vorsichtig sein, Mr. Ondragon! Sollten Sie uns noch einmal mit Ihren eingebildeten Hirngespinsten behelligen, lasse ich Sie nach Nett Lake für vierundzwanzig Stunden in Untersuchungshaft bringen! Und glauben Sie mir, Ihr Geld und Ihre ach so gewichtigen Kontakte werden Sie nicht davor schützen können. Verstanden?“
Ondragon schwieg mit zusammengepressten Lippen und vermied es, Kateri anzusehen, die ihn die ganze Zeit angesehen hatte. Sie dachte jetzt bestimmt, dass er komplett plemplem war! Welch schmachvolle Niederlage. Und dann ausgerechnet auch noch gegen diesen babygesichtigen Grünschnabel von einem Provinzbullen.
Ondragon warf Hase einen tödlichen Blick zu, aber der Deputy ignorierte ihn lässig. Er stand etwas abseits und sprach leise in sein Funkgerät. Wenig später steckte er das Gerät wieder zurück in seine Gürteltasche, gab das Signal zum Aufbruch und übernahm zusammen mit Pete die Führung. Wütend sah Ondragon ihnen
Weitere Kostenlose Bücher