Ondragon - Menschenhunger
seine Hände schweißnass. Seine Augen klebten an dem Gegenstand, der für ihn Horror schlechthin bedeutete, und als sie eine Buchseite umblätterte, verursachte das Rascheln des bedruckten Papieres ihm ein Zittern am ganzen Leib. Schnell wich er noch weiter zurück und bekam sich erst wieder unter Kontrolle, als er draußen auf dem Flur stand. Hatte die Hypnose diese ungewohnt heftige Reaktion ausgelöst? Oder war es die Kombination dieser Frau mit einem Buch? Warum tat sie das? Sie wusste doch, dass er Probleme damit hatte. Ondragon wandte sich von der Tür zur Lounge ab. Beim Abendessen in einer Stunde würde er mit ihr sprechen können, so lange musste er sich die Zeit mit etwas anderem vertreiben. Er steckte sich ein Kaugummi in den Mund und begann durch das Gebäude zu wandern. Zum zweiten Mal, seit er hier logierte, sondierte er das Terrain und teilte die Räume in zwei Kategorien ein: solche, zu denen die Gäste unbeschränkten Zutritt hatten - wie beinahe der gesamte untere Bereich, mit Ausnahme des Büros hinter dem Empfangstresen und der Küche mitsamt der Kühl- und Lagerräume und solche Räume, die eine bestimmte Autorisierung erforderten oder ganz gesperrt waren für den Zutritt Unbefugter. Dazu gehörten die Sprech- und Therapieräume, die Verwaltungs- und Arbeitszimmer der Ärzte im obersten Stockwerk und natürlich Dr. Arthurs Wohnräume im „Turm“. In Ondragon kam die Frage auf. Wie hielt man es hier unter einem Dach mit all den Verrückten bloß aus? Man musste schon verdammt idealistisch veranlagt sein … oder bestenfalls auch verrückt.
Er beendete seinen Rundgang im Wohntrakt vor der Zimmertür mit der Nummer 20. Er hatte dort bereits einmal erfolglos gelauscht, und schon da war ihm aufgefallen, dass an dieser Tür ein anderes Schloss angebracht war als bei den restlichen Gästezimmern, nämlich ein elektronisches Zahlenschloss. Das würde er nicht so leicht aufbekommen wie das unten vom Büro. Aber Rudee hatte ihm einige nützliche Apps für sein iPhone geschrieben, mit denen man selbst mehrfach gesicherte Zahlenkombinationen ausspionieren oder sich in bestimmte Systeme einhacken konnte, wie zum Beispiel Alarmanlagen. Alles, was er dafür brauchte, war ein ungestörter Moment und sein Telefon, auf das sogar Steve Jobs neidisch gewesen wäre! Doch dazu später. Zuerst der Hardwaretest. Ondragon hob eine Hand und klopfte laut an die Tür. Nichts.
Er vergewisserte sich, dass außer ihm niemand auf dem Flur war und sprach dann mit gedämpfter Stimme gegen die Tür: „Hallo, Mr. Orchid? Sind sie da drinnen?“
Stille.
„Mr. Orchid, ich bin von der Polizei und würde gerne mit Ihnen über die Leiche im Wald reden!“
War da ein Laut gewesen? Ein sanftes Poltern, so als stünde jemand von einem Stuhl auf?
„Mr. Orchid? Bitte geben Sie mir ein Zeichen, ob Sie da drinnen sind.“
Wieder Stille wie in einem Grab.
Ondragon gab es auf. Er würde sich entweder einen ganzen Tag auf die Lauer legen müssen, um den Typen zu erwischen, oder er brach nachts in Nr. 20 ein. Bevor er nach unten zum Abendessen ging, sah er in seinem Zimmer noch einmal in seiner Mailbox nach. Leider war sie noch immer leer. Rudee ließ sich verdammt viel Zeit!
Im Restaurant war es voll. Das schlechte Wetter hatte alle Gäste wohl aus Langeweile zur gleichen Zeit zum Abendessen getrieben. Hoffnungsvoll schaute Ondragon sich um, doch leider keine Kateri. Seltsam, wo steckte sie nur? In Ihrem Zimmer? Einen Moment überlegte er, noch einmal hinaufzugehen und bei ihr zu klopfen, doch dann besann er sich und setzte sich an seinen Tisch, wo Carlos ihn mit einem schelmischen Lächeln bediente.
Nicht ohne eine gewisse Neugier sah sich Ondragon unter den Gästen um. War einer von ihnen ein Kannibale? Er bemerkte, dass Charlie Bloom wieder getrennt von den Models saß, finstere Mienen auf beiden Seiten. Nanu, Krach? Nicht sein Problem. Dafür hatten sich Enrique Souza und der bisher unauffällige Staranwalt Steven Myller zueinandergesellt. Ungewöhnlich. Noch eine weitere ungewohnte Paarung stellten Thomasz Viktory, der Tennisspieler, und der Chirurg Petrowsk dar. Gemeinsam saßen sie an einem Tisch und diskutierten heftig - soweit er das hören konnte, auf Russisch. War es nicht so, dass Russen und Osteuropäer verstärkt zum Kannibalismus neigten - von wegen bitter kalte Winter und so? Ondragon ließ seinen Blick weiterschweifen. Die Filmdiva? Nein. Der Politiker? Vielleicht. Harvey Lyme, der Makler? Der saß stocksteif da
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