Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
ausgemacht zu haben. Ihm hingegen zwickte es im Rücken. Er wusste schon, warum er die Wildnis nicht mochte. Sie ließ einen immer älter erscheinen als man war.
Wenig später packten sie ihre Sachen zusammen und schulterten ihre Rucksäcke. Doch bevor sie den Abstieg in Angriff nahmen, sondierte Ondragon das Gelände ein weiteres Mal mit seinem Fernglas. Alles sah so aus wie am Tag zuvor. Er winkte die Madame heran.
„Wo liegt der zweite Schacht der Mine von hier aus gesehen?“
Sie holte die zerknitterten Notizen hervor und deutete schließlich nach Westen. „Dort am Rand zum Canyon. Da, wo der Wald aufhört.“
„Bestens, dann können wir einen Bogen um das lästige Gestrüpp machen und gehen gleichzeitig etwaigen Hinterhalten aus dem Weg.“ Er blickte Rod in die eisblauen Augen. Sein Freund hatte sich heute ebenfalls ein Tuch um den Kopf gewunden und sah aus wie eine weißhaarige Ausgabe von Willem Dafoe in Platoon. Ondragon lächelte in sich hinein. Endlich war Rod wieder im Combat-Modus. So gefiel er ihm schon wesentlich besser!
Einen breiten Texasakzent imitierend, sagte der Brite: „ Sir, yes, Sir! “ Und tippte sich grinsend mit zwei Fingern an die Stirn.
„Okay, Privates , dann folgt mir unauffällig“, gab Ondragon zurück und setzte sich an die Spitze des kleinen Trupps.
Sie ließen die bewaldete Senke rechterhand liegen und arbeiteten sich am steinigen Hang in Richtung Westen vor. Das Gelände fiel hier steil zum Canyon ab, den der Ti Rivière de Jacmel im Laufe der Jahrtausende in den gelblichen Fels hineingefressen hatte.
Als sie endlich am Rand der Schlucht eintrafen, drohte die Sonne sie bereits zu verbrennen, obwohl es gerade mal neun Uhr war. Ondragon wies seine Begleiter an, sich zu disziplinieren und so wenig wie möglich zu trinken. Vor nicht einmal drei Tagen wäre er beinahe wegen Wassermangels krepiert, und das wollte er nur ungern wiederholen. Da sie mit leichtem Gepäck unterwegs waren, hatte er den Wasservorrat knapp bemessen. Drei Gallonen pro Nase für die drei bis vier Tage der Operation. Zur Not hatten sie noch Wasseraufbereitungstabletten dabei, dann könnten sie welches aus einem Fluss oder Brunnen schöpfen, ohne davon krank zu werden.
Grimmig schaute er sich um. Sie standen auf einem kleinen, kahlen Buckel. Rechts von ihnen lag der grüne Pool des Urwaldes, und links fiel ein schroffer Felssturz bergab in das trockene Flusstal.
„Wo ist der Schacht?“, sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Er bekam trotzdem eine Antwort.
„Da hinten. Das sieht doch aus wie eine Abraumhalde.“ Rod wies auf mehrere kleine Kuppen, die wie Aufschüttungen aus Geröll aussahen, außerdem wirkte das Gestein der Haufen etwas heller als das anstehende rundherum.
„Du könntest recht haben. Das sehen wir uns mal an. Aber seid vorsichtig! Ich habe keine Lust, dass uns der Schreihals von gestern Nacht überrumpelt!“
Mit Bedacht näherten sie sich den Kuppen. Als sie dort ankamen, flog plötzlich ein Schwarm Geier auf und erhob sich kreischend in die Lüfte. Erschrocken hielt die kleine Gruppe inne und wartete mit eingezogenen Köpfen, bis sich die dunkle Wolke aus schlagenden Flügeln und Krallen entfernt hatte und nur noch das entfernte Krächzen der Aasfresser an ihre Ohren drang. Ihnen schwante nichts Gutes.
Und nachdem Rod zwischen die Geröllkegel gespäht hatte, bestätigte er schließlich, was alle vermutet hatten: „Noch eine Leiche.“
Aber Ondragon wollte sich selbst vergewissern und trat neben den halb angefressenen Kadaver, der mit dem Gesicht nach unten in einer Mulde lag. Hinter ihm hielt die Madame sorgfältig Abstand, um nicht den süßlichen Gestank einatmen zu müssen, der von der Toten ausging – denn es war erneut eine Frau. Man konnte deutlich ihren Brustansatz erkennen, und außerdem hatte sie einen Rock getragen, der nun zerfetzt um ihre dürren Beine hing.
„Muss wohl die Mutter sein. Mitglied Nummer drei der Expedition.“ Unwillkürlich erschauerte Ondragon. Er wollte sich nicht vorstellen, wie das Mädchen und der zweite Junge wohl aussehen mochten, falls sie das Schicksal dieser Frau teilten und irgendwo dort im Gebüsch verrotteten. Trotz des unappetitlichen Anblicks hockte er sich hin und betrachtete den Kadaver genauer. Er trug keine Schnittwunden oder anderweitige Verletzungen. Sämtliche offene Stellen waren von den Aasfressern zugefügt worden. Ondragon sah auf den Kopf der Frau und zuckte unwillkürlich ein weiteres Mal zurück,
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