Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
Fußsohlen und schon ist das Gift im Körper. Von diesem Zeitpunkt an gibt es keine Rettung mehr. Das Opfer spürt, wie ihm langsam unwohl wird, wie seine Gliedmaßen anfangen zu zittern und zu kribbeln. Er gerät in Atemnot und verfällt schließlich in eine Lähmung, die den ganzen Körper ergreift. So liegt es also da, hat kaum einen Herzschlag und keine wahrzunehmende Atmung. Seine Körpertemperatur sinkt. In Haiti haben selbst schon erfahrene Ärzte Opfer des Zombiepulvers für tot erklärt. Natürlich wird der Scheintote anschließend wie alle Verstorbenen gemäß den Regeln der Tradition bestattet und begraben – und das noch immer bei vollem Bewusstsein. Er muss die Hölle durchmachen. Nicht nur, weil er lebendig begraben ist und die Luft im Sarg immer knapper wird, nein, er weiß auch, dass es sein Schicksal sein wird, ein Zombie zu sein, wenn er jemals wieder aus dem Grab herauskommen sollte. Schenkt man dem Buch von Wade Davis Glauben, so ist dies für einen abergläubischen Haitianer eine schrecklichere Strafe als der Tod. Ein willenloser Sklave zu sein und als Arbeitstier verkauft zu werden, ist ihr schlimmster Albtraum. Und dieser Albtraum kann, laut Davis, durchaus wahr werden. Ist das nicht spannend? Unser Opfer liegt also im Grab, zutiefst verängstig und vollkommen von Sinnen. Jetzt betritt die zweite Partei das Spielfeld. Die erste waren die Shanpwel, die das Opfer verurteilt haben. Die zweite sind die Schwarzmagier, die Bo …“
„Die Bokors, die mit Baron Samedi gemeinsame Sache machen“, ergänzte Ondragon.
„Genau!“ Strangelove klang erstaunt. „Der Bokor und seine Gehilfen öffnen nachts das Grab und holen das Opfer aus dem Sarg. Zu diesem Zeitpunkt dürfte der Ärmste geistig schon ziemlich durch sein mit dem Thema. Aber, um sicherzugehen, dass auch wirklich dessen letzter Sinn für die Realität ausgelöscht wird, flößen sie ihm ein zweites Gift ein, das hauptsächlich Datura Stramonium beinhaltet. Die …“
„Die Zombiegurke, Concombre Zombie, Weißer Stechapfel“, vervollständigte Ondragon erneut den Satz des jungen Chemikers, denn er erinnerte sich noch gut daran, wie die Madame dieses Zeug während der Voodoo-Session in ihrem Club bei ihm angewendet hatte und wie ihm davon ganz schummerig geworden war. Diese Kräuterhexe! Sie hatte einen Teil der Zombierezeptur an ihm ausprobiert! Was hatte sie mit ihm vorgehabt? Ondragon schob diesen Gedanken beiseite. Er würde sich später um sie kümmern.
„Auch wieder korrekt“, sagte Strangelove derweil. „Sie wissen ja schon alles.“ Er klang enttäuscht.
„Nein, nein, nicht alles, nur einige Details. Bitte, fahr fort.“
Strangelove räusperte sich. Er schien so richtig in Schwung zu sein. Der Diskurs mit seinem Auftraggeber machte ihm offenkundig Spaß. „Wade Davis behauptet, dass das Scopolamin, das ist das Gift der Datura, welches übrigens eine ganz ähnliche halluzinogene Wirkung wie das Bufotonin hat, den Gehirnzellen des Opfers sozusagen den Rest gibt. Der Betroffene fällt in ein Delirium, eine tiefe geistige Verwirrung, in der er nicht einmal mehr weiß, wie er heißt. Er verliert die Erinnerung an sein vorheriges Leben und jeglichen Sinn für Raum und Zeit. Er wird willenlos. In diesem Zustand schafft der Bokor ihn weg und verkauft ihn als Arbeitskraft an andere skrupellose Menschen. Das ist wie in dem Film White Zombie von 1932. Einer der ersten Zombiefilme überhaupt. Und der Einzige, der die Zombies in etwa so darstellt, wie sie wirklich sind. Als willenlose Sklaven ohne Erinnerung. Kennen Sie den?“
„Nein.“ Ondragon runzelte die Stirn. Was sah Strangelove bloß für Filme?
„Nun, ich bin ein Fan alter Schwarzweißschinken, da ist mir der mal untergekommen. Lohnt sich.“
„Aha. Aber kommen wir doch jetzt zurück zur Realität. Die Zombifizierung geschieht also mehr mit Hilfe von Drogen als mit Hokuspokus.“
„Ja und nein. Die Zombifizierung hat sicherlich jene fatale Auswirkung auf einen Haitianer, weil er sein ganzes Leben daran glaubt, dass es so etwas wie Zombies gibt. Ein Japaner, der zu viel Fugu isst, wird jedoch nicht automatisch zu einem wandelnden Untoten, nur weil er dasselbe Gift intus hat. Es hat also viel mit dem Aberglauben zu tun. Die Schwarzmagier des Voodoo behaupten, dass ein Mann erst durch ihre Magie zum Zombie wird, nicht etwa durch die Zaubermittel, die sie ihm geben. Sicher ist aber, dass man, wenn man erstmal durch die Erde gegangen ist, wie es in Haiti heißt, nicht
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