Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
Flüssigkeit aus seiner Blutbahn zu saugen, und immer häufiger erfasste ihn ein heftiges Schwindelgefühl, das sich bis in seine wackeligen Beine fortsetzte und ihn dazu zwang, sich so lange auf seinen Stock zu stützen, bis er wieder bei Kräften war.
„Du taugst eben nicht für die Wildnis, Paul. Bist total verweichlicht, du Großstadt-Nerd!“
Erschrocken hob Ondragon den Blick. Wer hatte das gesagt? Er sah, wie eine kleine Gestalt im Schilf zu seiner Rechten erschien.
Es war Per.
Sein verstorbener Bruder verschränkte die Arme und blitzte ihn belustigt an. Er schwebte über dem Wasser, als sei er ein zweiter wiederauferstandener Jesus. Doch sein Gesicht war bleich wie ein Alligatorbauch und seine Lippen reptilienartig grau. Ondragon meinte, dazwischen sogar kleine spitze Zähne aufblitzen zu sehen.
„Bist du gekommen, um mich zu nerven?“, blaffte er die Erscheinung an.
Gleichmütig schüttelte Per den Kopf. „Du bist jämmerlich, Paul Eckbert, guck dich doch mal an! Was ist aus dir geworden in deinem verzweifelten Versuch, nicht zu sein wie unser Vater? Was hat er dir getan, dass du ihn noch immer so sehr hasst? Er wollte doch nur unser Bestes!“ Auch seine Zunge war alligatorscharf! Die Worte trafen zuverlässig ins Ziel.
Ondragon verengte die Augen zu Schlitzen. „Frage nicht, was Vater mir angetan hat, frage lieber, was er UNS angetan hat!“
„DU hast das Bücherregal doch umgeworfen! DU warst es!“, schrie Per, sein Mund eine schwarze Höhlung.
„ICH? Aber das … stimmt nicht! Vater hat uns in der Bibliothek eingesperrt!“
„Du hast das Bücheregal umgeworfen, weil du eifersüchtig auf mich warst, weil Vater mich bevorzugt hat!“ Auch diese Spitze saß. Tatsächlich hatte Ondragon immer das Gefühl gehabt, sein Vater hätte Per größere Freiheiten eingeräumt und ihn liebevoller behandelt. Plötzlich spürte er, wie er in der Zeit zurückgerissen wurde. Er sah die verhasste Tür zur Kairoer Bibliothek seines Vaters vor sich, sah, wie sie sich öffnete, sah, wie die Tonnen von verstaubten Büchern ihn angrinsten und hämisch kicherten. Kleine, böse Raubtiere, die seine Angst witterten und ihr entgegengeiferten. Nein, das war nicht ganz richtig. Seine Angst vor den verfluchten Büchern war erst nach dem Unfall gekommen! Diese Angst hier war anders. Irgendwie ahnungsvoller, instinktiver. Auch sie begleitete ihn schon eine sehr lange Zeit. Aber je mehr er sich anstrengte, das Gefühl zu definieren, das ihn übermannt hatte, desto schneller entglitt es ihm wieder, und ehe er sich versah, fühlte er, wie eine harte Hand ihn in die Bibliothek stieß. Knallend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss, und er war allein mit all dem bedruckten Papier! Und mit Per!
Aber was war eigentlich geschehen? Er konnte sich noch daran erinnern, dass er aus Zorn gegen seinen Vater eine kleine ägyptische Figur gegen die Reihe aus Buchrücken geschleudert hatte, wodurch das Regal ins Schwanken geraten … und schließlich eingestürzt war. Eine Lawine von steinharten Büchern hatte sich über sie ergossen und unter sich begraben. Sie hatten Paul fast erstickt und Per den Schädel eingeschlagen! Insofern war er tatsächlich schuld an dem Geschehen, schuld am Tod seines Bruders. Aber konnte eine kleine Figur, gerade mal so groß wie ein Taschenmesser, ein zwei Mannslängen hohes Bücherregal umwerfen?
Ondragon schlug die Hände vors Gesicht. Etwas stimmte an seiner Erinnerung nicht. Die Bilder in seinem Kopf waren unscharf, und er hatte den Eindruck, als gaukelten sie ihm eine falsche Wahrheit vor. Seine Hände wanderten zu seiner Brust hinab, wo er sie faltete. Er sah seinen Bruder an, der geduldig im Sumpf neben ihm wartete. „Per, es tut mir leid! Bitte, du musst mir glauben, es geschah nicht mit Absicht. Sicher war ich eifersüchtig auf dich, aber ich wollte dir niemals ein Leid zufügen. Ich habe dich doch geliebt. Du bist wie ich, du bist mein Zwilling!“ Flehend sah er Per an. Wenn sein Bruder ihm schon nicht persönlich vergeben konnte, dann vielleicht diese durchscheinende Projektion seines ewig schlechten Gewissens. „Ich bitte dich, Per, nimm meine Entschuldigung an.“
„Damit du mich vergessen kannst? Pah, das hast du dir so gedacht. Zuerst wirst du dich mit Vater versöhnen!“ Per Gustavs jungenhaftes Gesicht war in strenge Falten gelegt.
Ondragon stand mit offenem Mund da. Was sein Bruder da von ihm verlangte, war unmöglich. Er konnte sich nicht mit seinem Vater versöhnen. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher