Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
Differenzen waren, wie sagte man so schön, unüberbrückbar. Das hatte er auch letztes Jahr wieder zu spüren bekommen, als er nach der Sache in Minnesota nach Berlin geflogen war, um sich nach langer Zeit mal wieder mit seinen Eltern zu treffen, ja, und auch um einen erneuten Versuch zu unternehmen, sich seinem Vater anzunähern. Aber alles, was der alte Stinkstiefel getan hatte, war, ihm zu zeigen, dass eine Beilegeng des alten Zwistes von seiner Seite aus nicht erwünscht war. Ondragon hatte sich trotz allem bemüht, mit ihm zu kommunizieren, wie auch seine Mutter sich befleißigt hatte, zwischen ihnen zu vermitteln, aber ihre Anstrengung war umsonst gewesen, genau wie die ganze Reise!
Schon nach drei Tagen war Ondragon wieder aus Berlin abgereist. Enttäuscht, desillusioniert und jeglicher Hoffnung beraubt. Das Schlimmste aber war, dass der alte Hass wieder aufgeflammt war und ihn innerlich aushöhlte. Nun würde es wieder Jahrzehnte dauern, ehe er ihn soweit im Griff haben würde, ihn wenigstens ignorieren zu können.
Obwohl … ganz umsonst war die Reise dann doch nicht gewesen, denn schließlich war er auch nach Berlin gekommen, um herauszufinden, ob an dem Spionageverdacht seiner Mutter etwas dran war, mit dem ein Insasse der Klinik in Minnesota sie damals belastet hatte. Jener unangenehme Zeitgenosse hatte eine angebliche Quelle aufgetan, die behauptete, Ava Birgitta Ondragon sei eine schwedische Agentin und habe als Ehefrau eines deutschen Diplomaten für ihre Regierung spioniert. Ondragon hatte immer schon vermutet, dass dies bloß eine Lüge gewesen war, die nur dazu gedient hatte, ihn zu verunsichern, aber dennoch wollte er auf Nummer sicher gehen. Ohne Vorwarnung hatte er seine Mutter in einem ungestörten Moment damit konfrontiert. Als Antwort hatte Ava Birgitta lediglich gelächelt. Und was sie ihm daraufhin über ihre Ehe mit Siegfried Ondragon, ihre Zeit beim schwedischen Militär und ihre regelmäßigen Reisen in die skandinavische Heimat erzählte, gab ihm neue und tiefe Einblicke in das komplizierte Leben an der Seite eines Diplomaten.
Ava Ondragon hatte all diese Schwierigkeit gemeistert. Sie war ihrem Mann bereitwillig alle drei Jahre in eine andere fremde Stadt gefolgt, hatte sich auf offiziellen Veranstaltungen als treusorgende Ehefrau und Mutter präsentiert und sich einen Ruf als kulturell interessierte Frau erarbeitet. Innerlich aber hatte sie zuerst den Tod eines ihrer Söhne verkraften müssen, welcher ihr viele Jahre die Seele verdüstert hatte, und dann die Abkehr des zweiten Kindes von der Familie. Doch auch damals war ihre Loyalität klar positioniert gewesen. Auch wenn sie der Verlust beider Söhne schmerzte, hatte sie doch immer zu ihrem Mann gehalten. Sie war unerschütterlich an seiner Seite geblieben bis zu seiner Pensionierung in Berlin. Jedoch – und das lastete Ondragon mehr auf dem Herzen, als ihm lieb war – gab seine Mutter sich heute längst nicht mehr so unerschütterlich wie damals, weil sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Den Fehler, ihn, Paul Eckbert Ondragon, damals einfach so gehen zu lassen.
Nur langsam tauchte Ondragon aus seinen Erinnerungen auf.
„Ich kann mich mit Vater nicht versöhnen, verstehst du?“, sagte er und hob dem bleichen Geist seines Bruders eine Hand entgegen. Der starrte mit zusammengepressten Lippen zurück. „Das mit Vater ist vorbei, für immer! Ich habe es versucht, aber … ich habe es nicht geschafft.“
„Du hast es nicht wirklich versucht, Paul!“ Die Stimme des Geistes klang hart.
„Oh doch, das habe ich, verdammt noch mal! Dieser Mann, der sich unser Vater schimpft, ist ein sturer Bock! Ein verknöcherter alter Bastard, dessen einziges Vergnügen es war, mich zu demütigen.“ Aufgeregt gestikulierte Ondragon mit den Händen. „Kapier das endlich und verschwinde!“ Er hatte die Sticheleien satt. Mit einem letzten Winken setzte er sich wieder in Bewegung und ließ Per hinter sich.
Stumpfsinnig watete Ondragon weiter, Meile um Meile. Aber sein Wille war noch immer ungebrochen. Wie ein maroder Akku trieb er ihn an. Marode zwar, aber immer noch funktionstüchtig.
Wenigstens ließ Per ihn jetzt in Ruhe!
Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, um nicht über die Hoffnungslosigkeit seiner Situation nachzudenken, aber immer öfter blieb er mit den Füßen im Schlamm hängen, was ihn aus der Balance brachte, und als ihn schließlich die Kraft verließ, stolperte er und fiel mit den Knien voran ins
Weitere Kostenlose Bücher