Ondragon: Totenernte: Mystery-Thriller (German Edition)
bevorstehende Operation, dann schlief er ein.
Er erwachte, weil er das Gefühl hatte, jemand starre ihn an. Ruckartig öffnete er die Augen, doch da war niemand außer Rod und der Madame in den Sesseln vor ihm, und die schienen in ein angeregtes Gespräch vertieft zu sein. Ondragon konnte ihre murmelnden Stimmen trotz des Turbinenlärms gut hören. Das war neben der Zentrifuge eine seiner besonderen Fähigkeiten. Er konnte verschiedene Geräusche filtern, so dass er nur noch das hörte, worauf er sich fokussierte. Kam wahrscheinlich von dem verhassten Cello-Unterricht, auf den sein Vater in seiner Jugend bestanden hatte. Aber dadurch war es ihm nun möglich, das Turbinenheulen auszublenden und die Stimmen seiner beiden Begleiter so deutlich hervortreten zu lassen, als säße er direkt neben ihnen. Sie redeten gerade über Haiti und Madames Kindheit, in der sie in Cap Haïtien eine Privatschule besucht hatte. Nichts sonderlich Aufregendes.
Ondragon gähnte und sah auf die Uhr. Noch eine Stunde Flugzeit. Er konnte getrost noch ein wenig weiterschlafen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.
Kurz bevor die Welt der Traumbilder sich für ihn auftat, hörte er Rod die Madame fragen, warum sie von Haiti in die Staaten übergesiedelt sei, um ausgerechnet dort als Voodoo-Priesterin zu arbeiten. Das machte Ondragon nun doch neugierig und er lauschte mit einem Ohr dem Gespräch.
Die Madame lachte, warum, wusste er nicht, dann antwortete sie: „Ich war mit Zwanzig an der Harvard Businessschool in Cambridge und habe dort meinen MBA gemacht.“
Die Madame war in Harvard gewesen? Jetzt wurde Ondragon hellhörig und lauschte mit voller Aufmerksamkeit. Er wunderte sich nicht nur darüber, dass sie an einer Eliteuniversität studiert hatte, sondern auch, weil das Studium dort verdammt teuer war. Wie hatte sie sich das als armes Kind Haitis leisten können?
„Danach habe ich bei einer Unternehmensberatung gearbeitet“, fuhr die Madame fort, „aber nur zwei Jahre. Mein Vater wurde sehr krank, und ich hatte ihm versprochen, in seine Fußstapfen zu treten. Ich flog also nach Haiti und unterzog mich mehrere Jahre lang der Ausbildung zur Priesterin. Ich bin tief verbunden mit der Tradition meines Landes, müssen Sie wissen, aber ich wusste damals schon, dass ich dort nicht mehr würde leben können. Ich war, wie sagt man so schön, spoiled – verdorben. Dennoch wollte ich meines Vaters Wunsch erfüllen und es macht mich auch sehr stolz, das tun zu dürfen. Mein Vater war ein sehr einflussreicher und auch wohlhabender Mann in unserer Stadt, er war nicht nur ein Houngan, ein Priester, er war auch ein Kopf der Shanpwel.“
„Ah, davon habe ich schon mal was gehört“, hörte Ondragon Rod sagen, „das sind geheime Gesellschaften, am ehesten mit den Logen der Freimaurer zu vergleichen. Sie existieren unter der Oberfläche des haitianischen Staatsapparates und sprechen für ihre eigene Gemeinschaft Recht, unabhängig von der staatlichen Jurisdiktion. Sie sind gefürchtet, kümmern sich aber auch um ihre Mitglieder, wenn sie in Not geraten.“
„Das ist richtig, Mr. DeForce, da sind Sie gut informiert.“ Die Stimme der Madame klang anerkennend. „Mehr kann ich Ihnen aber nicht darüber verraten, mich bindet ein Eid.“
„Selbstverständlich. Und warum sind Sie zurück in die USA gekommen?“
„Nach meiner Initiation zur Mambo starb mein Vater. Ich wollte und konnte seinen Humfó, seinen Tempel, nicht übernehmen. Mein Cousin hatte diesen Anspruch angemeldet. Aber darüber war ich nicht traurig, ich verließ meine Heimat und suchte mir einen Ort, an dem ich eine neue Gemeinschaft gründen konnte.“
„Und Sie wählten New Orleans.“
„Ja, in New Orleans hat der Vodou -Glauben eine lange Tradition, ich fand dort fruchtbaren Boden. Es gibt dort drei verschiedene Shanpwel. Eine davon ist meine.“
Erstaunt stellte Ondragon fest, dass die Madame schon die ganze Zeit über ohne Akzent und frankophone Begriffe sprach. Auch wunderte er sich darüber, wie freimütig sie seinem Freund ihre Lebensgeschichte offenbarte. Er spürte einen missgünstigen Stich. Warum hatte sie ihm bisher nichts davon erzählt? Und warum hatte sie sich ihm gegenüber verstellt und so getan, als spreche sie nur gebrochenes Englisch?
Weil du ein ignoranter Arsch bist, deswegen!
Ondragon presste die Lippen zusammen, weil ihm klar wurde, dassdie Madame die gleichen Tricks bei ihm angewendet hatte, die er selbst gerne benutzte,
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