One: Die einzige Chance (German Edition)
Junge mit indischem Einschlag lehnte rauchend am Radkasten und verzog keine Miene. Er trug eine weite Leinenhose und ein weißes Hemd, das im Luftzug flatterte. Ohne Eile drückte der Junge seine Zigarette aus und begrüßte Fabienne mit einem Kuss, der so flüchtig war wie bei Samuels Eltern kurz vor der Scheidung. Sie unterhielten sich, die Gesichter von ihm abgewandt. Ein Schattenspiel. Scherenschnitte, schmal wie Pappfiguren. Fabienne gestikulierte wild mit den Armen. Wahrscheinlich ging es um ihn. Wahrscheinlich war er eine Bedrohung für die Geheimhaltung und absolut unerwünscht. Bestimmt war er das. Die Idee, Fabienne zu begleiten, war nicht auf seinem Mist gewachsen. Doch jetzt, wo er schon mal da war, hatte er die Hoffnung, wenigstens diese Nacht in einem Bett verbringen zu dürfen. Nein, seine Ansprüche waren gesunken. Er wollte nur einen Platz zum Schlafen, mehr nicht. Wenn es sein musste, genügten ihm auch eine Matratze auf dem Boden und eine Decke.
Langsam wurde Samuel ungeduldig. Wie lange wollten sie denn noch über sein Schicksal beraten? Er öffnete den Kofferraum, hob die Transportbox aus dem Wagen, als wollte er Fabienne und ihren Freund damit vor vollendete Tatsachen stellen. Anschließend holte er den Rucksack. Jede Bewegung verursachte Schmerzen. Sein ganzer Körper fühlte sich wie eine einzige Prellung an. Vielleicht hatten die Polizisten – es mussten mindestens zwei gewesen sein – zugetreten, als er am Boden lag. Anders konnte er sich dieses widerliche Ziehen und Brennen an Rücken und Beinen nicht erklären.
Sein Flug nach London ging erst in drei Tagen, bis dahin würde er sich eben Berlin anschauen. Wahrscheinlich verhielt es sich mit den Unruhen in Deutschland wie mit denen in Hongkong. Sie entluden sich wie heftige Gewitter, hinterließen ein paar Schäden, die man schnell beseitigen konnte, und danach ging es weiter wie vorher. Sein Onkel würde Augen machen, wenn er plötzlich vor ihm stand. Samuel wusste nicht, warum sich sein Vater mit Justus zerstritten hatte. Nach seinem letzten Besuch in Hongkong vor fünf, sechs Jahren war er einfach nicht mehr aufgetaucht. Zum Geburtstag hatte er Samuel noch ein paarmal Geld überwiesen und eine Glückwunschmail geschickt. Mehr nicht. Und Samuel hatte nie nach den Gründen gefragt. Wieso eigentlich nicht? Jetzt, wo er darüber nachdachte, fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, nie nachzuhaken und den Kontakt einschlafen zu lassen. Wenn er sich recht erinnerte, hatte er Justus auf die letzte Mail nicht mal mehr geantwortet. Aus den Augen, aus dem Sinn. So war das auch mit anderen Freunden gelaufen, die er in Peking, Singapur, New York und Zürich kennengelernt hatte. Der Kontakt hielt ein paar Monate und brach dann ab. Aber wie er Justus in Erinnerung hatte, würde der ihm das trotzdem nicht übel nehmen.
Endlich winkte ihn Fabienne zu sich herüber. Sie stellte ihm ihren Freund vor. Wenn Samuel sie richtig verstanden hatte, hieß er Kyoti.
»Auf jemanden wie dich haben wir gewartet«, sagte Kyoti ein wenig angesäuert, gab ihm die Hand und lächelte gezwungen. Selten hatte Samuel weniger Zuneigung in einer Begrüßung gespürt. Als müsste er sich verteidigen, sagte er, dass er gleich morgen wieder abhauen würde. Fabiennes Freund wirkte aus der Nähe noch dünner. Sein olivfarbenes Gesicht wurde von einem gepflegten Dreitagebart eingerahmt, die Wangen waren eingefallen, seine Hautfarbe relativ dunkel. Sie stiegen in einen Lastenaufzug hinter dem Container und fuhren nach unten. Fabienne schmiegte sich an Kyoti wie eine Hündin, die bei ihrem Herrchen in Ungnade gefallen war und nun inständig auf Vergebung hoffte. Kyoti markierte den Beleidigten. Sein Verhalten war lächerlich. Er tippte auf einem Tablet-Computer herum, auf dem sich Zahlenkolonnen senkrecht und waagrecht formierten, um sich mit Schaubildern, Balken, Kurven und Tortendiagrammen abzuwechseln. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ nicht erkennen, auf welche Weise ihn die Daten berührten. Nur einmal hob er den vertrockneten Mundwinkel und nickte leicht, als würde alles nach Plan laufen. Sie gingen wortlos durch einen langen Korridor, der in fahles gelbes Licht getaucht war. Vor nackten Betonwänden türmten sich Kartons, die mit Klebebändern in unterschiedlichen Sprachen versehen waren. Die Lüftung machte einen ordentlichen Lärm. Sie kamen an einer geöffneten Tür vorbei, aus der ihnen ein Schwall warmer Luft entgegenschlug. Ein klackendes, schneller
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