One: Die einzige Chance (German Edition)
zuverlässigere Anlaufstelle?«, fragte sie, nachdem sie losgefahren waren.
»Mein Patenonkel, der wohnt in Berlin. Sobald ich an mein Telefonbuch auf dem Handy komme, kann ich ihn anrufen. Vielleicht ist ja nur der Akku leer. Ich hab die Sachen aber auch online gespeichert.«
»Pablo kann sich dein Handy nachher anschauen. Er kennt sich gut mit Technik aus. Dürfte kein Problem sein.«
Samuel lächelte vorsichtig. Er wurde aus Fabienne nicht schlau. Ihre Laune änderte sich alle paar Minuten. »Wäre super«, sagte er. »Hast du zufällig mein Portemonnaie gesehen? Es war vorne im Rucksack. Da ist es aber nicht mehr.«
»Das ist typisch. Gibt immer Leute, die Demos dafür benutzen, um an Kohle zu kommen. Gibt sogar Banden, die sich darauf spezialisiert haben, Geschäfte zu überfallen, während draußen die Flaschen fliegen.«
»Eigentlich eine gute Idee«, sagte Samuel.
»Das ist keine gute Idee! Das ist zum Kotzen. Die Leute kämpfen nur für sich. Die begreifen nicht, welche Macht sie hätten, wenn sie alle zusammenhalten würden.«
»So hab ich das nicht gemeint«, versuchte Samuel zu beschwichtigen. Zu gerne hätte er jetzt ihr Gesicht gesehen. Wahrscheinlich schüttelte sie herablassend den Kopf.
»Die Leute denken, dass es irgendwann wieder besser wird«, sagte sie mit einem fast gehässigen Unterton in der Stimme. »Die haben keinen blassen Schimmer, was wirklich draußen abgeht. Dass sie alle nur Marionetten sind, die Verlängerung einer menschenverachtenden Maschinerie. Ein Teil, das man austauscht, sobald es kaputt ist.«
»Was geht denn ab?«, fragte Samuel so neutral wie möglich und spürte im nächsten Moment, wie der Wagen beschleunigte. »Könntest du eventuell etwas langsamer fahren?«
Fabienne ging vom Gas. »Wir müssen etwas unternehmen, verstehst du? Es genügt nicht, abzuwarten, zu hoffen oder zu beten. Wir dürfen nicht zulassen, dass die einzelnen Nationen mithilfe von Vorurteilen gegeneinander ausgespielt werden, wie es gerade passiert.« Sie redete weiter. Ihre Stimme klang schneidend und entschlossen. Zwar machte sie nur Andeutungen, was ihre Pläne oder besser gesagt die der »Organisation« waren, der sie angehörte, aber für Samuel bestand nicht der geringste Zweifel, dass sie es ernst meinte. Dennoch war es ihm egal. Er hörte sich ihre Parolen an und hatte sie im nächsten Moment wieder vergessen. Vor seinen verbundenen Augen zogen stattdessen andere Bilder auf. Immer wieder das Blut, immer wieder das aufgedunsene Gesicht. Immer wieder das Röcheln. Wie gut hatte Kaspar Weinfeld seinen Vater gekannt? Dass der noch nie von ihm erzählt hatte, sprach dafür, dass Weinfeld nur ein Bekannter war. Vielleicht jemand, mit dem er bei einem seiner Projekte zusammengearbeitet hatte. Also würde er nicht allzu bestürzt sein.
Neun
Schönefeld | 25 Grad | Wolkenlos
Fabienne zog Samuel die Augenbinde ab und sie stiegen aus dem Wagen. Auf das Zuschlagen der Autotüren folgte ein langer Nachhall. Quietschend schloss sich hinter ihnen ein Tor. Die Halle war schlecht ausgeleuchtet, die Hallendecke nicht zu erkennen. Durch Risse in den Wänden schoss das violette Licht der untergehenden Sonne herein und schnitt den Boden in geometrische Figuren, die sich in zufälliger Symmetrie gegenüberstanden. Wahrscheinlich befanden sie sich in einem Flugzeughangar auf dem Großflughafen von Berlin, den man nach einem Brand bei der Eröffnung nie in Betrieb genommen hatte. Samuel hatte mal eine Reportage darüber gesehen, und Hallen von diesem Ausmaß gab es nicht wie Sand am Meer. Ihm die Augen zu verbinden, war also völlig überflüssig gewesen.
Im hinteren Teil stapelten sich unzählige Kartons. Daneben erhob sich ein regelrechter Berg aus Styroporverpackungen, Folien und Holzpaletten. Waffen, Maschinen, Computer – all das hatte sich in Samuels Vorstellung darin befunden.
»Bin gleich wieder da«, sagte Fabienne, ohne auf seinen fragenden Blick einzugehen, und lief hinüber zu einem beigefarbenen Container auf der gegenüberliegenden Seite. Ihr edler Aufzug stand im krassen Gegensatz zum kargen Ambiente, dem verdreckten Boden, über den der Wind Armeen aus Staubflusen trieb. Für jemanden, der vermutlich meist in Sneakers durch den Tag ging, bewegte sie sich auffallend selbstsicher auf den hohen Absätzen.
Neben dem Container stand ein großer Pritschenwagen. Ein amerikanisches Modell mit gewaltigen Reifen und einer Frontpartie, die Samuel lächerlich böse anstarrte. Ein dunkelhaariger
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