One: Die einzige Chance (German Edition)
länger als ein paar Sekunden ertragen konnte, ohne Herzrasen zu bekommen. Was hatte Samuel hier verloren? Im Wald. Er, der gesuchte Mörder, und das kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag. Genau so hatte er sich den Start in sein selbstbestimmtes Erwachsenenleben vorgestellt: als zur Fahndung ausgeschriebener Killer. Wahrscheinlich flimmerte sein Gesicht bereits über Infoscreens an Bahnhöfen, Flughäfen und Kreuzungen. Und in den sozialen Netzwerken machte man bestimmt schon Jagd auf ihn, der sich nichts zuschulden hatte kommen lassen, außer zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein. Die Geschichte klang wie aus einem banalen Hollywood-Blockbuster. Wenigstens unter dem Anschluss von Kata meldete sich die Mailbox. Ihre Stimme war klar und deutlich zu hören. Um sie nicht allzu sehr zu verwirren, sagte er nur, dass es ihm gute ginge und er es später noch mal probieren würde. Was in den letzten Tagen vorgefallen war, hätte er nicht in sinnvolle Sätze packen können, ohne dabei wie ein Junkie zu klingen, der auf einem schlechten Trip hängen geblieben war.
»Ich muss zur Polizei«, sagte Samuel, nachdem er aufgelegt hatte. »Ich muss ihnen sagen, dass es ein Irrtum ist, bevor meine Eltern durchdrehen. Nachher denken sie tatsächlich, dass ich was damit zu tun habe.«
»Mit dem Mord?«, fragte Fabienne. »Kennen sie dich so schlecht?«
»Nein, aber …«
»Bei dem, was gerade los ist, stecken sie dich in U-Haft, bevor du den Mund aufmachen kannst. Hast du nicht gehört, was sie in den Nachrichten gesagt haben: Sie können jetzt mutmaßliche Terroristen auf Verdacht aus dem Verkehr ziehen und sie so lange einbuchten, wie sie wollen.«
Samuel sah sie prüfend an. »Wart ihr das?«
»Was?«
»Habt ihr meinen Onkel umgebracht?«
»Wie bitte?«
»Findest du es nicht seltsam, dass wir uns in all dem Trubel zufällig zweimal über den Weg laufen? Und wenn mein Onkel so ein hohes Tier war, dann würde euch das doch richtig gut reinlaufen. Dann könntet ihr doch bestimmt bei euren Fans damit punkten, einen von denen da oben abgemurkst zu haben. Ist doch die optimale Einstimmung auf eure kranke Hetzjagd.«
Fabienne holte Luft. »Sie halten uns jetzt für Terroristen, verstehst du? Sie werden uns jagen und jede noch so kleine Spur verfolgen. Was hier gerade abgeht, kann uns alles kaputt machen.«
»Aber Kyoti hat doch gesagt, dass ihr bereit seid, Leute umzubringen, wenn es sein muss. Vielleicht hat er diese Entscheidung ja im Alleingang getroffen.«
»Wir sind nicht die RAF, unsere Idee ist es, den Feind mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Unsere Community hat sich in der Mehrheit gegen Terror ausgesprochen. Es kann Tote geben, es ist aber nicht vorgesehen und nur einige von uns haben Waffen. Wir wollen so schnell wie möglich wieder zu einer funktionierenden Demokratie zurückfinden.«
»Hast du das alles auswendig gelernt? Hat dir das der große Guru in einem Ausbildungscamp beigebracht?«
Fabienne parierte den Angriff mit einem Lächeln. »Du verstehst es nicht und ich bin dir deshalb nicht böse. Wahrscheinlich würde ich genauso reagieren, wenn man mich zu Unrecht wegen Mordes suchen würde. Aber ich bin nicht der Feind. Ich habe nichts damit zu tun, dass auf dein Gesicht eine Belohnung ausgesetzt ist!«
»Glaubst du wirklich, dass ihr mit eurem Spiel eine Revolution anzetteln könnt? Das ist lächerlich!«
»Nenn es von mir aus lächerlich, das ist mir egal. Aber …« Fabienne hielt inne. Polizeisirenen waren zu hören. Das Blaulicht zuckte über die Dächer der Gartenlauben – aus der Richtung, aus der sie gekommen waren. Vielleicht hatte man sie doch erkannt. Es gab schlechtere Gründe, jemanden anzuzeigen, als zweihunderttausend Euro. Diese Zahl mit fünf Nullen war über das eingeblendete Laufband geschlichen wie ein Söldnerheer, das jetzt nach ihm ausschwärmen würde.
Samuel schulterte den Rucksack und griff nach der Transportbox.
»Was hast du vor?«, fragte Fabienne.
»Ich werde jetzt zur Polizei gehen und mich stellen. Ich hab keinen Bock mehr, wegzurennen. Und euer Spiel oder was auch immer ihr da treibt, ist total krank!«
»Ist es das? Krank?« Sie riss ihn an der Schulter zurück. »Dann hau ab! Geh zurück zu Mama und Papa und heul dich aus. Du solltest nur nicht vergessen, dass wir dich beobachten. Ein Wort und die Gemeinschaft wird entscheiden, was zu tun ist.«
»Ihr seid also doch nur billige Terroristen.« Samuel stolperte davon. Aus dem Augenwinkel sah er,
Weitere Kostenlose Bücher