One: Die einzige Chance (German Edition)
er Apple ein Bein gestellt und ihnen eine App untergejubelt, die sie ein wenig ins Straucheln gebracht hat. Aber er wollte nicht zu den Hackern gehören, die sich selber feiern, weil sie Unternehmen ins Schwitzen bringen. Er wollte etwas bewegen und ist deshalb erst mal untergetaucht. Mit der ersten Version hat er nichts zu tun. Die ist schon mehr als zehn Jahre alt. Damals hat ein anonymer Programmierer One als Betaversion ins Netz gestellt. Open Source, sodass es von Jahr zu Jahr besser wurde, weil sich immer mehr Leute dafür begeistert haben und daran arbeiteten. Erst nach und nach haben sie die Grafik angepasst und daraus ein modernes Spiel gemacht, mit dem man auch Leute erreicht, die sich mehr für den spielerischen Teil interessieren und weniger für den politischen.«
»Mal ehrlich«, Samuel blieb stehen, »auch wenn das mit dem Glockenläuten vorhin beeindruckend war und ihr auf Überwachungskameras und so zurückgreifen könnt – glaubst du im Ernst, das genügt, um …« Samuel suchte nach dem richtigen Wort.
Fabienne kam ihm zuvor. »… eine Revolution zu starten?« Sie standen unter einem mächtigen Baum. Die Blätter raschelten. Eine Seite ihres Gesichts wurde von der Beleuchtung des Handys angestrahlt. »Ja, das glaube ich. Jetzt sind alle Spieler aktiviert. Die einzelnen Sektoren bündeln ihre Kräfte und werden nach einem vorgegebenen Muster Server der Stromversorger, Relaisstationen und Funkmasten der Handyanbieter blockieren. Die wichtigsten Webseiten unserer Gegner werden mit Anfragen überrannt und sind in wenigen Stunden nicht mehr erreichbar.«
»Und wozu braucht es das Glockenläuten? Als Special Effect?«
Sie lächelte müde. »Als Zeichen der Solidarität. Ab jetzt gibt es keine einzelnen Sektoren mehr, die im Wettstreit um den höchsten Glücksindex ihrer Bürger stehen, sondern nur noch ein geeintes Europa, in dem gemeinsam für den Umsturz gekämpft wird. Im Augenblick wird das endgültige Protokoll ausgewertet. Danach werden wir unser Spiel in die Wirklichkeit übertragen. Mit vereinten Kräften.« Jetzt klang sie wie eine Politikerin.
»Du meinst es tatsächlich ernst?«
»Die Welt wird sich verändern.« Sie blickte ihn an. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war schwer zu deuten. Wahrscheinlich musste sie sich zurückhalten, um nicht herablassend auszusehen, weil er nicht vor Ehrfurcht erstarrte. »Woran glaubst du?«, fragte sie unvermittelt.
»Was?«
»Ist die Frage so schwer zu verstehen?«
»Redest du von Gott?«
»Oder Mohammed oder Allah oder Jahve …« Sie stemmte die freie Hand in die Hüfte. »Nein, das meine ich nicht. Ich meine, woran du glaubst. Ich will wissen, was für dich ein gutes Leben ist. Was du vorhast. Wo du deinen Platz in dieser Welt siehst.«
»Was ich vorhabe?«, wiederholte Samuel. »Ich will studieren. Das hab ich dir bereits gesagt.«
»Und dann?«
»Was, und dann?« Samuel wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Ihre Stimme hatte jegliche Freundlichkeit verloren.
»Wirst du dann eine Familie gründen, in ein Haus ziehen, brav deine Steuern bezahlen, ein Auto kaufen, am Wochenende shoppen gehen und irgendwann Papas Erbe antreten?«
Samuel hatte genug von ihren Andeutungen. Er war müde, seine Beine taten weh und er wurde wegen Mordes gesucht. Dafür, dass er gerade mal ein paar Tage in Europa war, war das eine erschreckende Zwischenbilanz.
»Ja, vielleicht will ich das irgendwann. Wie weit noch?«
»Wohin?«
»Ich dachte, du kennst den Weg.«
»Ja, ich kenne den Weg. Aber was ist dein Ziel?«
»Können wir dieses Gespräch eventuell auf einen anderen Zeitpunkt vertagen? Philosophie liegt mir nicht besonders.« Er holte tief Luft. »Meine Beine tun weh, ich habe Hunger und du bist komisch.«
»Ich bin komisch?« Fabienne machte einen energischen Schritt auf Samuel zu, der instinktiv zurückwich. Sie bohrte ihren Zeigefinger in seine Brust. »Leute wie du sind komisch. Sie denken nur an sich selbst. Sie denken, dass alles okay ist, weil es ihnen gut geht. Sie glauben, dass sie denen, die ihnen den Arsch abputzen, nichts schuldig sind, außer ein bisschen Kohle, mit dem sie diesen Scheißkreislauf am Leben erhalten. Von deiner Sorte gibt es zu viele!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und folgte dem Pfad tiefer in den Wald hinein. Auch wenn Samuel am liebsten umgedreht wäre, blieb er dicht hinter ihr. Ohne GPS würde er nicht weit kommen. Ab und zu tauchte zwischen dem Blätterdach der Mond auf. Eine Sichel, abnehmend oder zunehmend, Samuel
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