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One: Die einzige Chance (German Edition)

One: Die einzige Chance (German Edition)

Titel: One: Die einzige Chance (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Elsäßer
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weiße Mercedes des Immobilienmaklers stand bereits in der Feuerwehrzufahrt, direkt unter einem Schild mit einem Abschleppwagen. Er mochte den schnöseligen jungen Typen nicht. Das lag nicht an seinem holländischen Akzent, sondern an dem unechten Lächeln, das er sich mit Sicherheit beim teuersten Zahnarzt der Stadt erkauft hatte. Kayan legte Wert darauf, den Menschen beim Sprechen in die Augen zu schauen. Augen waren zuverlässiger als jeder Lügendetektor. Die Mimik konnte man kontrollieren, aber nicht die Augen, sie offenbarten die Wahrheit. Immer.
    Kayan nahm die Treppe nach oben, nicht die Schräge vor der Seitentür. Er hatte die Angewohnheit, in Gedanken die Stufen zu zählen. Ein Spiel aus seiner Kindheit. Jeden Tag hatte er für seinen Traum als Fußballer in der Primera División trainiert. Er rannte die Treppen der Stadt wie unter Strom rauf und runter, vorbei an eingezäunten Häusern mit bellenden Hunden, die ihn am liebsten gefressen hätten, weil sie riechen konnten, dass er nicht hierhergehörte. Wahrscheinlich trug Kayan deshalb immer etwas zu viel Parfüm auf. Er hatte Angst, die Menschen könnten seine Herkunft riechen und ihn, den Einwanderer, den Migranten, mit Verachtung strafen. Obwohl diese Angst unbegründet war, wie sich in den letzten Jahren herausgestellt hatte. Sobald man sich mit genügend Statussymbolen umgab, schien die eigene Herkunft genauso unwichtig zu sein wie die des Geldes. Nein, im Gegenteil. Die Menschen hörten ihm fasziniert zu, wenn er von den Armutsvierteln in Buenos Aires und der Schreckensherrschaft des Militärs erzählte, als er noch ein Kind war. Aus den Slums zur Universität. Gewissermaßen vom Tellerwäscher zum Millionär. Mit Glück und Ehrgeiz. Ein Abschluss mit Auszeichnung und schließlich die Gründung seiner Firma, die in den offiziellen Büchern Handel mit anderen Scheinfirmen betrieb, die er über Treuhandgesellschaften geschickt steuerte.
    »Sie kommen zu spät«, begrüßte ihn der Immobilienmakler, ein schalkhaftes Lächeln auf den Lippen. Der Notar, ein hagerer Mann, das fleischgewordene Abbild eines peniblen Zahlenmenschen, hatte die Unterlagen auf einem der Tische ausgebreitet. Kayan schüttelte beiden die Hände und entschuldigte sein Zuspätkommen mit einer Polizeikontrolle. Während der Makler die Eckdaten der Immobilie herunterbetete, stellte sich Kayan in die Mitte des sechseckigen Gastraums und ließ seinen Blick wie eine funkgesteuerte Panaromakamera über die edlen Holztische, die schwarzen Granitsäulen mit den goldenen Einlassungen und den Tresen mit der hoch aufragenden Bar gleiten. Sein Herz begann zu pochen wie in dem Moment, in dem er seine Frau kennengelernt hatte. Ein Kribbeln, angefangen bei seinem kleinen amputierten Zeh, strömte durch seinen Körper: Er war angekommen! Er hatte es geschafft. Das hier war der Traum, für den er all die Jahre geschuftet hatte. Das hier war der Ort, an dem er alt werden wollte. Zusammen mit seiner Frau. Natürlich würde er als Gerente nicht jeden Tag hier arbeiten und schon gar nicht seine Frau. Sie sollte ihre Schönheit bewahren. Sie sollte nicht vom Leben gezeichnet sein wie seine Mutter oder die Frauen, die er bei früheren Aushilfsjobs in einer Fabrik gesehen hatte.
    Kayan erreichte gerade den Ausgangspunkt seiner Drehung, wollte auf den Tisch mit den Unterlagen zusteuern und entgegen seiner Gewohnheit nur noch fragen, wo er unterschreiben musste, als die Tür zum Gastraum aufgedrückt wurde und der alte Mann, sein Mitfahrer, der Länge nach hereinstürzte. Im Bruchteil einer Sekunde entschied Kayan, die jämmerliche Gestalt, die strampelnd wie ein auf den Rücken gefallener Käfer vor ihnen lag, nicht mehr zu kennen. Gott würde ihm das verzeihen. Nur schnell unterschreiben und dann nichts wie weg. Manchmal musste man eben zuerst an sich denken.
    Weder der Notar noch der Immobilenmakler machten Anstalten, dem Greis aufzuhelfen. Das Pyjamaoberteil war nach oben gerutscht und entblößte hervorstechende Rippen, über denen sich die pergamentene Haut spannte.
    »Gibt es hier ein Altenheim?«, fragte Kayan.
    Der Immobilienmakler interpretierte seine Frage als Kritik an der Lage des Objekts und schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Kein Kindergarten, keine Altenheime. Nicht mal einen Friedhof. Das hier ist ein neu erschlossenes Wohngebiet mit mehr als zweihundert exklusiven Wohneinheiten. Die passende internationale Kundschaft für die gehobene Gastronomie. Viele Russen. Viele wohlhabende

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