One: Die einzige Chance (German Edition)
wusste es nicht. Er wusste nur, dass er sich so schnell wie möglich bei der Polizei melden musste und, wenn das geklärt war, sofort nach London fliegen wollte. Vielleicht bräuchte er einen Anwalt, damit sie ihn nicht in U-Haft steckten.
Sie erreichten eine Waldlichtung. Dort war es nicht still. Ein beständiges Brummen und Knistern lag über den Geräuschen des Waldes. Über ihnen zog sich eine Hochspannungsleitung. Fabienne blieb stehen, bückte sich und griff in einen Busch hinein. Dann drehte sie sich um und streckte Samuel eine Handvoll Beeren entgegen.
»Nimm schon«, sagte sie. »Dein Magenknurren ist nicht zu überhören. Sind harmlose Brombeeren.«
»Und die Tiere?«
»Welche Tiere?«
»Na ja, wenn die hier ihr Geschäft machen. Dann haben die doch Würmer und so.«
Fabienne schaubte und schob sich die Früchte in den Mund. »Ihr Geschäft machen« , sagte sie kauend. »Dann pflück dir halt selber welche von weiter oben, wenn du Angst hast, dir den feinen Magen zu verderben.«
Samuel stellte sich auf einen Baumstumpf und zupfte mehrere Beeren aus dem hinteren, oberen Bereich. »Scheiße!«, schimpfte er. Ein Dorn hatte sich in seine Hand gebohrt und reflexartig ließ er seine magere Beute fallen.
Fabienne lachte. »Zum Sammler eignest du dich schon mal nicht.«
»Vielleicht zum Jäger«, knurrte Samuel und zog sich den Dorn aus dem Handballen. »Können wir weitergehen?«
Fabienne griff erneut in den Busch hinein und reichte Samuel ein paar Beeren. Diesmal nahm er ihr Angebot an. Sie musste ihn für einen Vollidioten halten. Die Früchte schmeckten köstlich. Am liebsten wäre er hiergeblieben, um sich den Bauch vollzuschlagen, doch Fabienne lief eilig weiter.
Nachdem sie ein schmales Waldstück mit Kiefern – einen Duft, den Samuel noch aus seiner Kindheit kannte – passiert hatten, schlängelte sich der Pfad einen Hügel hinauf. Der kurzfristige Energieschub war schnell aufgebraucht. Samuel brannte die Lunge und seine Rippen taten weh. Auf der Kuppe angekommen, tippte Fabienne etwas in ihr Handy. Vielleicht hatten sie sich verlaufen und sie wollte es nicht zugeben.
»Sorry«, sagte sie. »Müssen einen kleinen Umweg machen. Muss noch was nachschauen.«
»Hat das der Oberbefehlshaber gerade entschieden?«
»Ohne jemanden wie Kyoti wären wir nicht besser als die Occupy-Bewegung, Anonymous oder all die anderen, die am Chaos und der Unentschlossenheit zerbrochen sind. Kein Umsturz ohne Führung. So ist das nun mal.«
»Du meinst wohl eher: kein Umsturz ohne Führer.«
»Weiter reicht dein Geschichtswissen wohl nicht als bis zu Hitler.« Fabienne schüttelte missbilligend den Kopf. »In einigen Monaten wird es wieder eine funktionierende Demokratie geben, glaub’s mir. Bis dahin wird sich alles gefunden haben.« Kaum hatte sie diese Worte ausgespuckt, drehte sie sich von Samuel weg, tippte weiter und stapfte davon. Der Weg führte aus dem Wald hinaus auf eine ungemähte Wiese. In der Ferne erkannte man das orangefarbene Licht von Straßenlaternen. Über ihren Köpfen spannte sich die knisternde Hochspannungsleitung. Fabienne steuerte auf den nächsten Mast zu, der wie ein stählerner Koloss aus der Landschaft ragte. Sie stellte sich neben einen Metallfuß und blickte nach oben. Samuel wollte etwas sagen, doch sie hielt den Zeigefinger vor die Lippen. Wenn man länger hinhörte, hörte man aus dem Knistern der Stromleitungen kleinere Unregelmäßigkeiten heraus. Samuel hatte den Eindruck, dass es jetzt mehr wie ein Surren klang. Und dieses Surren ebbte ab, schien sich in Richtung Wald zu entfernen, bis es schließlich ganz erstarb.
»Phase eins hat begonnen«, sagte Fabienne mit einem Lächeln.
»Und was bringt es, den Leuten den Saft abzudrehen?«
»Kein Strom, kein Handel. So einfach ist das. Aber keine Angst, ist erst mal nur ein Warnschuss. In einer Stunde machen wir das Licht wieder an.«
Drei
Berlin | 22 Grad | Nieselregen
Als Kayan sich dem vereinbarten Treffpunkt näherte, fragte er sich, was er jetzt tun sollte. Er war spät dran, aber er hatte den alten verwirrten Mann nicht mitgenommen, um ihn jetzt weiter durch die Dunkelheit irren zu lassen und zu hoffen, dass ihn jemand fand. Nicht zuletzt sein schlechtes Gewissen hätte ihn daran gehindert. Also entschied er sich, zuerst den Makler zu treffen, bevor er den alten Mann zur Polizei brachte. Glücklicherweise befand sich die Wohnanlage mit dem Restaurant, mit seinem Restaurant , nur ein paar Blocks weiter. Der protzige
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