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One: Die einzige Chance (German Edition)

One: Die einzige Chance (German Edition)

Titel: One: Die einzige Chance (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Elsäßer
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den Steuerwahnsinn nicht mehr mitmachen. Fünfzig Prozent auf Zinseinkünfte. Keine Freibeträge. Da konnte man zusehen, wie dank der rasanten Inflation das Geld weniger wurde. Ihr Vermögen hatten sie in Alufolie gewickelt und zwischen die Wäsche gesteckt. Alufolie? Wahrscheinlich hatte ihnen jemand erzählt, dass man ihren Wagen durchleuchten würde und Aluminium den Inhalt unsichtbar machte. Die Welt war voll mit schwachsinnigen Gerüchten.
    Es hatte angefangen zu regnen, als Kayan an der Reihe war. Dicke Tropfen klatschten auf das Autodach. Die Polizisten hatten die Rollen getauscht. Der Jüngere gesellte sich zu ihm, während der Schnauzbärtige den Wagen inspizierte. Zuerst lud er den Koffer aus. Dann den Rollator.
    »Diese Dinger sind Gold wert«, sagte der Jüngere. »Seit einem Schlaganfall braucht mein Großvater auch einen.«
    »Ist schlimm«, sagte der Bärtige, als hätte er die Geschichte gerade zum ersten Mal gehört. Sein Blick wanderte hinüber zu dem glänzenden Hartschalenkoffer. »Haben Sie beruflich in der Schweiz zu tun?«
    »Sie können ihn ruhig öffnen«, sagte Kayan, ohne auf die Frage einzugehen. »Ist nur dreckige Wäsche drin.« Er warf den halb gerauchten Zigarillo auf den Boden und trat ihn aus. Wenn sie den Schmuck entdeckten, würde er seinen Anwalt anrufen. Was erwartete einen wegen versuchten Schmuggels? Eine Geldstrafe wegen Steuerhinterziehung? Die Wahrheit zu sagen, zog womöglich mehr Scherereien nach sich, als die Tat zuzugeben. Einreisen würden sie ihn trotzdem lassen. Der Versuch galt ja dem deutschen Staat und nicht der Schweiz. Die Sache hatte nur einen Haken: Was, wenn sie den Ursprung des Schmucks ermitteln wollten? Was, wenn sie glaubten, einen Einbrecher geschnappt zu haben? Außer dem Kennzeichen des Wagens hatten sie bisher noch nichts von ihm. Sein Ausweis schien sie nicht zu interessieren. Oder sie hatten vor lauter Routine diesen ersten Schritt vergessen. Er könnte flüchten. Er könnte die beiden niederschlagen und einfach davonrasen. Aber weit würde er nicht kommen, höchstens bis zur nächsten Polizeisperre. Also begann er zu beten. Das tat er sonst nur in der Kirche oder wenn es um seine Familie ging. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, IHN um Unterstützung anzurufen, wenn es darum ging, seinen Job zu erledigen. Es war nicht möglich, im Namen Gottes zu töten.
    »Was haben wir denn da?«, kam die Stimme des Bärtigen aus dem Kofferraum. Kayan rührte sich nicht. Keine vorgetäuschte Überraschung, kein ängstliches Zusammenzucken, nur das Gebet, dass seine Reise hier noch nicht zu Ende war.

Elf
    Zürich | 26 Grad | Gewitter
    Samuel ging die Szene mit den Flüchtlingen nicht aus dem Kopf. Was passierte nach ihrer Verhaftung? Wurden sie zurückgebracht? Bekam man eine Strafe, wenn man unberechtigt versuchte, eine Grenze zu übertreten? Alle paar Sekunden schaute er nach hinten. Vielleicht waren sie als Nächstes dran. Vielleicht waren sie längst von unsichtbaren Kameras erfasst worden und man wollte abwarten, was sie vorhatten. Vielleicht war eine Gruppe doch nicht mehr wert als zwei Jugendliche. Zumindest, wenn sie die Grenze überschritten hatten. Fabienne fuhr langsamer. Sie überquerten eine Holzbrücke und bogen in eine Landstraße ein. Wegen des Regens konnte Samuel nicht erkennen, was auf dem großen Schild auf der anderen Flussseite gestanden hatte. Wahrscheinlich eine Begrüßung: Willkommen in der Schweiz! Illegale Einwanderer und Terroristen bitte bei der nächsten Polizeistelle melden , dichtete er hinzu. Sie fuhren durch ein Dorf. Überall hingen Plakate, die selbst im fahlen Licht der Straßenlaternen noch grellrot leuchteten. Die Parolen darauf waren halb übermalt. Auf einem der Plakate hatte er im Vorbeifahren das Wort Krieg erkannt. Vielleicht hatte da aber auch Kind gestanden. Kind, Krieg, Flucht. Er war auf der Flucht. Der Mörder versuchte, der Polizei zu entkommen. Niemand war unterwegs. Vereinzelt brannten Lichter in den Häusern. Nach etwa fünfhundert Metern bog Fabienne rechts in einen Feldweg, der steil anstieg. Sie musste sich die Strecke tatsächlich gemerkt haben. Während der Fahrt hatte sie kein einziges Mal auf ihr Handy geschaut. Samuel hielt Fabiennes Hüften umfasst. Der Elektromotor konnte erstaunlich schnell beschleunigen. Vorhin im Wald wäre er um ein Haar runtergefallen, als Fabienne einer Baumwurzel ausweichen musste. Nach der langen Fahrt fühlten sich seine Finger steif an. Fabienne drehte sich kurz zu ihm

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