One: Die einzige Chance (German Edition)
Verkäuferin hatte den exklusiven Duft angepriesen. Er drapierte die Sachen neben dem Rollator, damit es aussah, als seien die Geschenke aus der Tüte gerutscht. Rollatoren waren ja mittlerweile ein Massenprodukt und gehörten zur Grundausstattung jeder Großfamilie. Somit war es nichts Außergewöhnliches, einen davon im Kofferraum zu haben. Solange das Schmuckkästchen unentdeckt blieb, gab es keinen Grund zur Beanstandung. Er hatte einen gültigen Personalausweis, zahlte brav seine Steuern und war ein unbescholtener Bürger – zumindest was die Aktenlage anbetraf. Er stieg wieder in den Wagen. Der Russe winkte ihm zu, als seien sie dicke Freunde. Kayan winkte zurück. Der Grenzübergang kam in Sichtweite. Auf der rechten Seite standen einige Autos mit geöffneten Kofferräumen. Die Polizei kontrollierte nach keinem nachvollziehbaren Muster. Ein Mercedes, ein Mini, ein VW-Bus. Schmuggler bevorzugten mit Sicherheit keine bestimmte Marke. Neulich hatte er davon gelesen, dass illegale Einwanderer über Mitfahrzentralen in die Zielländer gebracht wurden. Für dreißig Euro Fahrtkostenbeteiligung. Das Geld für den Schlepper nicht inklusive. Er hatte Mitleid mit diesen Menschen. Sie wollten eben auch einen Teil vom Kuchen abbekommen und nicht nur als billige Arbeitskräfte für Produkte herhalten, die sie sich selbst nicht leisten konnten.
Der Grenzbeamte nahm ihn ins Visier. Was war in dieser Situation angebracht? Ein neutraler Blick? Ein leichtes Lächeln? Augenkontakt? Er stellte sich diese Frage nicht zum ersten Mal, doch heute pochte sein Herz mit harten Schlägen und er begann zu schwitzen. Gab es etwas Widerlicheres als kalten Schweiß, der den Rücken hinunter in die Poritze lief?
Der Ausweis, diese Scheckkarte mit seinem biometrisch gerasterten Gesicht und dem Chip, stand in der Mittelkonsole. Es war sein Joker. Dieses Stück Plastik war seine Vollkaskoversicherung. Sie war das Rundum-sorglos-Paket eines jeden deutschen Staatsbürgers, zusammen mit der Karte für die Krankenversicherung. In seiner alten Heimat hätten die Menschen tagelang auf den Straßen getanzt, wenn ihnen der Staat so ein Geschenk gemacht hätte, doch hier rannten die Leute geduckt durch die Städte. Stets mit sorgenvollem, pflichtbewusstem Blick. Stets mit der Angst im Nacken, ein Stück von diesen Privilegien zu verlieren. Diese Angst hatte er nie verstanden. Genauso wenig wie den Neid. Man bewunderte Menschen nicht dafür, dass sie es zu etwas gebracht hatten, sondern man stellte hinter ihrem Rücken Vermutungen an und wollte sie übertrumpfen. Man akzeptierte nicht, dass die Mutigen dafür belohnt wurden, wenn sie etwas wagten. Selbst die Wohlhabenden blieben davon nicht verschont. Nie schien es genug zu sein. Nie schien es zu reichen, um das Leben genießen zu können.
Der Wagen vor ihm wurde durchgewinkt. Der Zollbeamte hob seine Hand, als Kayan heranrollte. Natürlich würde man ihn kontrollieren. Er sah nicht aus wie ein blasser Deutscher. Im Scherz nannte ihn seine Frau manchmal Mafioso, weil er im Urlaub am Meer immer eine goldene Geldklammer bei sich trug, wenn sie abends ausgingen.
»Haben Sie Bargeld zu verzollen?« Der Zöllner bewegte kaum die Lippen. Er wirkte auf beunruhigende Art gelangweilt. Wahrscheinlich war das seine Masche.
»Nein.«
»Wohin sind Sie unterwegs?«
»Nach … nach Zürich.«
»Geschäftlich.«
»Ja.«
»Fahren Sie bitte rechts ran und steigen Sie aus. Der Kollege Braun wird Ihnen weitere Anweisungen geben.«
Kayan nickte wortlos. Der Kollege Braun … Der Zollbeamte wendete seinen Blick von ihm ab und winkte den nächsten Wagen heran. Kayan rollte nach rechts in die Haltebucht. Dort stand ein Mercedes, bei dem alle Türen geöffnet waren, daneben wie in Stein gemeißelt ein altes Ehepaar. Ein junger Beamter räumte gemächlich das Gepäck aus dem Wagen, während sein schnauzbärtiger Kollege das Ehepaar in ein Gespräch verwickelte. Fast überall auf der Welt arbeiteten die Grenzkontrollen nach dieser Taktik. Bei unerfahrenen Schmugglern gab es eine hohe Trefferquote. Es war ein Spiel. Es war eine Runde Poker. Nichts weiter.
Kayan stieg aus dem Wagen und steckte sich ein Zigarillo an. Er war ein guter Spieler. Aber heute war nicht sein Tag. Heute hatte er den Einsatz nicht selbst bestimmt.
»Sind gleich so weit«, sagte der Schnauzbärtige.
»Ist gut«, antwortete Kayan knapp. Er hatte Mitleid mit den alten Leuten. Wahrscheinlich hatten sie ihr Leben lang geschuftet und nun wollten sie
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