One: Die einzige Chance (German Edition)
Richtern bunkern sie ihr Vermögen und machen damit alles nur noch schlimmer.« Der Mann stoppte kurz seinen Monolog, als ein Polizeiwagen auf dem Seitenstreifen vorbeifuhr. »Jetzt haben sie bestimmt wieder so ein armes Würstchen geschnappt, das sein Erspartes über die Grenze bringen will. Traurig ist das. Die Leute haben einfach nicht kapiert, dass es in Europa keinen sicheren Platz mehr gibt, wo sie ihr Geld hinschieben können, außer unter das eigene Kopfkissen.« Der Polizeiwagen hielt etwa fünfzig Meter vor ihnen an. Ein Polizist mit Megafon stieg aus und sagte in mehreren Sprachen, dass es zu Verzögerungen bei der Grenzabfertigung kommen würde.
»Würde mich nicht wundern, wenn die die Grenze bald dichtmachen«, sagte der Mann. »Bei dem Gesocks, das jetzt in die neuen EU-Staaten drängt, sollten wir uns das auch überlegen. Grenzkontrollen alleine werden nicht ausreichen, um die Schmarotzer aufzuhalten.«
Samuel war wütend. Sein Kopf dröhnte. Sein Kehlkopf schmerzte und das Sprechen fiel ihm schwer. Fabienne hatte sich auf ihn geworfen und mit einem Elektroschocker betäubt. Ein centgroßes Brandmal an seinem Hals war der Beweis dafür. Die Polizei war fort und Badawi hockte neben ihm. Unverletzt.
»Warum hast du das getan?«, krächzte Samuel. »Bist du denn total irre?«
»Sie hätten dich festgenommen, wenn du aufgestanden wärst. Es tut mir leid.« Sie zog eine kleine Tube aus der Jacke. »Damit verheilt die Brandwunde schneller. Glaub mir, es ging nicht anders.« Sie drückte etwas Creme auf ihren Finger. »Darf ich?«
»Ja.« Samuel biss die Zähne zusammen und sie cremte die Wunde ein. »Bist du das gewesen?«, fragte er. »Die Explosion?«
»Ich konnte dir das vorher nicht sagen, verstehst du? Dass die Polizei so schnell auftauchen würde, hab ich nicht geahnt.« Sie verschloss die Tube und stand auf. »Da hinten, wo der Rauch aufsteigt, befindet sich ein alter Bunker. Dort haben einige Firmen ihre Back-ups gelagert.«
»Was ihr da macht, ist Terror.« Samuel schüttelte den Kopf und trank einen Schluck aus der Wasserflasche. »Wieso hast du keine Angst? Sie werden dich einsperren. Nach allem, was du getan hast, werden sie dich ins Gefängnis stecken. Vielleicht hast du jemanden mit deiner Bombe getötet.«
»Nein, zu deiner Beruhigung: Es wurde nicht mal jemand verletzt. Das haben wir vorher alles abgecheckt. Wir sind keine Mörder.«
»Aber wieso hast du keine Angst?«, wiederholte Samuel seine Frage.
»Glaub mir, ich habe Angst. Aber die Kunst ist es, sie nicht zu zeigen. Die Kunst ist es, sich vorzustellen, dass es danach besser wird. Für alle. Wenn man das kann, lernt man mit der Angst umzugehen und sie nur dann zu spüren, wenn es darum geht, zu überleben.« Sie erhob sich und reichte Samuel die Hand. »Wir müssen weiter. Pablo hat mir einen Plan geschickt, wie wir über die Grenze kommen. Sie werden versuchen, die Kameras entlang der Route blind zu schalten.«
»Blind zu schalten? Was heißt das?«
»Sie unterbrechen die Verbindung zwischen den Kameras und dem Empfänger und spielen eine ältere Version ein, auf der wir nicht zu sehen sind.«
»Ich bleib hier«, knurrte Samuel.
»Du bleibst hier? Um was zu tun? Darauf zu warten, dass jemand vorbeikommt und dich festnimmt?«
»Ja, vielleicht. Vielleicht ist dieser Trip hier zu Ende. Ich will nicht mehr weglaufen. Ich will aussteigen aus diesem beschissenen Spiel.«
Das war der Moment, in dem sein Handy das Funkloch durchbrach und vibrierte. Ein Anruf in Abwesenheit.
Zehn
Grüne Grenze | 22 Grad | Ostwind
Immer wieder war das Knattern tieffliegender Hubschrauber zu hören. Der Fahrtwind zerrte an Samuels Jacke und trieb ihm Tränen in die Augen. Hoffentlich schaffte es Pablo, die Überwachungskameras und Sensoren entlang des Grenzstreifens zu stören. Sie waren ein bewegliches Ziel, das im Zickzackkurs über buckelige Feld- und Waldwege jagte. Wie ein aufgebrachtes Tier auf der Suche nach einer Lücke im Zaun, um seinen Verfolgern zu entkommen. Nur dass es hier gar keinen Zaun gab. Man musste sich die Markierung vorstellen. Die Trennlinie zwischen den beiden Ländern. Den Übergang zu einer Insel, die keine war. Hinter jedem Baum, hinter jeder Biegung erwartete Samuel einen Grenzposten. Vielleicht ein gepanzerter Wagen, bellende Hunde und Waffen, die auf sie gerichtet wurden. Vielleicht hatte Fabienne recht. Vielleicht war ein Motorrad unbedeutender als eine Gruppe Menschen. Vielleicht lohnte es sich nicht, einen
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