One Night Wonder
Hang zur Perfektion symmetrisch angeordnet und fachkundig dekoriert hat. Sie liebt den Mythos des »Schnittchens« in all seiner Herrlichkeit. Ich habe sie noch nie eine ganze Scheibe Brot am Stück essen sehen, bei ihr gibt es nur mundgerechte Happen. Aber die werden natürlich trotzdem mit Messer und Gabel gegessen, in unserem Falle mit massivem Silberbesteck, das so schwer ist, dass man nach dem zweiten Gang Muskelkater im Handgelenk bekommt. Opa schneidet sein fünfmarkstückgroßes Ei-Gurken-Brot so energisch durch, dass ich fürchte, sein Messer landet direkt auf der Lackoberfläche des Esstisches. Oma schüttelt den Kopf, sagt aber nichts.
Das Essen verläuft weitgehend ruhig. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele der kleinen Kunstwerke ich schon verdrückt habe. Dazu trinken wir Tee, auch das ist immer so. Ich bekomme die Fruchtvariante, Oma hat Pfefferminz und Opa Brennnessel. Nach gut einer halben Stunde sind alle fertig. Opa platziert das Besteck auf seinem Teller, zieht sich die Serviette aus dem Hemdkragen, brummt etwas von »Tagesschau«, nickt uns noch mal zu, und weg ist er. Oma wartet, bis er aus dem Zimmer ist, dann springt sie behände von ihrem Stuhl auf, zwinkert mir zu und verschwindet in der Küche. Was kommt denn nun? Zwei Sekunden später ist sie schon wieder da, mit einem Piccolo und zwei langstieligen Gläsern. Der Altersunterschied von 15 Jahren zwischen den beiden wird in letzter Zeit immer deutlicher. Während sie noch sehr agil und lebensfroh ist, wirkt Opa müde und regelrecht unlustig. Wahrscheinlich sind es auch die Schmerzen, die ihm sein fast steifes Bein macht.
Oma verteilt den Prosecco auf beide Gläser, dann reicht sie mir eins herüber.
»Schön, dass du uns mal wieder besuchst, Liebes«, sagt sie, und dann stoßen wir lächelnd an.
»Ich freu mich auch, Oma.« Doch dann muss ich sofort fragen, was mich am meisten beschäftigt.
»Warum fahrt ihr über Weihnachten weg?«
Oma scheint auf meine Frage vorbereitet zu sein, und trotzdem habe ich das Gefühl, dass es ihr schwerfällt, darüber zu reden.
»Du weißt, dass dein Opa viel herumgekommen ist. Seine Leidenschaft für Antiquitäten, die er auch zum Beruf gemacht hat, bot ihm diese Gelegenheit. Aber er hätte auch in seinem Laden bleiben können und die Dinge nur verkaufen. Doch er war kein Kaufmann, eher wohl ein Abenteurer.« Sie lacht, als sie sich an früher erinnert.
»Er hat seine ›Geschäftsreisen‹, wie er sie nannte, geliebt. Ich habe immer gesagt, er geht auf ›Beutezug‹. Er hat dem verarmten Adel in der Nachkriegszeit seine Schätze abgeluchst, er hat vieles an Preziosen über dubiose Verwicklungen erstanden, und er hatte unzählige Bekannte im ganzen Land sowie in Frankreich, Italien, Polen und Österreich. Das war seine Welt. Nur hinter seiner Ladentheke wäre er verkümmert wie eine Topfpflanze. Und genau deshalb machen wir diese Reise.«
Ihr Blick wird ernst, während sie den zierlichen Stiel des Sektglases in ihren Händen dreht. »Die Ärzte sagen … Na ja, sie meinen halt, dass es nicht gut um ihn steht. Seine Nieren, die wollen nicht mehr so. Das macht ihn oft müde. Und sein Herz. Und das Bein, aber das weißt du ja. Ich habe ihn gefragt, ob er noch mal mit mir verreisen würde. Und in diesem Moment ist er richtig aufgeblüht. So als hätte er vergessen, dass wir beide steinalt sind. Er hat sofort nach Karten gesucht und mir die ganze Gegend erklärt.«
Sie hört auf, mit dem Glas zu spielen, und stellt es energisch auf den Tisch. »Vielleicht ist es seine letzte Reise. Und ich hätte ihn schon viel früher fragen sollen.«
Ich weiß erst mal nicht, was ich sagen soll.
»Liebes, jetzt schau nicht so traurig. Freu dich für uns.«
»Ja, Oma, mach ich doch. Aber es ist auch schade, dass ihr nicht da sein werdet.«
Sie nimmt meine Hand und drückt sie. »Du weißt, wir haben immer gern mit euch gefeiert. Aber …«
»Ja«, unterbreche ich sie, weil ich nicht hören will, was nach dem »Aber« kommt.
»Jochen, Angelika und Simone sind doch bei euch, ihr müsst also nicht alleine feiern.«
»Na ja …« An die drei will ich jetzt nicht denken.
»Hast du schon gehört, dass sie auswandern?«
»Ja, was für ein bescheuerter Plan.«
»Na Lilly, so was sagt man nicht.«
»Tss …«
»Man denkt es höchstens«, sagt Oma und kichert. »Wollen wir mit deinem brummigen Opa etwas fernsehen?« Ich nicke.
Im Wohnzimmer ist die Tagesschau schon vorbei, und der Krimi hat angefangen. Oma
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