One Night Wonder
fleischgewordene Prototyp eines Räubers aus einem Märchenbuch, was nicht ausschließlich an seinem struppigen Toupet liegt. Er hat nicht nur einen Vollbart, sondern auch sonst überall Haare, sogar an den Ohren und auf den Händen. Er ist geschätzte 2,50 in groß und ziemlich ungelenk. Außerdem trägt er gern karierte Flanellhemden und dazu seltsame weite Leinenhosen aus ökologisch angebauter Baumwolle.
»Hohoho«, dröhnt er mir entgegen und knallt mir freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
»Herzlich willkommen«, ächze ich unter seiner Riesenpranke.
Tante Angelika dagegen ist winzig. Meinen Schätzungen zufolge pendelt sich ihre Nasenspitze ungefähr auf Bauchnabelhöhe ihres Gatten ein. Sie trägt immer noch Schulterpolster in ihren doppelreihigen Blazern. Mama behauptet, dass es dieses Modell in Versandhauskatalogen im Dutzend besonders billig gibt. Ihre Löwenmähne hat sie brav zum Pferdeschwanz gebunden.
»Hallo, Lilly!«, sagt sie durch geschlossene Zähne und nicht besonders freundlich.
»Tante Angelika.« Ich strecke ihr die Hand hin, während Onkel Jochen mit eingezogenem Haupt unter der Tannenranke an mir vorbei ins Haus drängt.
»Kommt doch rein«, sage ich nachträglich. Tante Angelika muss sich nicht bücken, um ins Haus zu gelangen. Etwas verloren steht Simone vor der Schwelle. Ein schlankes junges Mädchen, ganz in Schwarz, mit einem noch immer etwas pausbäckigen Kindergesicht und großen, traurigen Augen. Ihre Haare sind tiefschwarz gefärbt mit einer breiten türkisblauen Strähne in ihrem langen Pony, die sich ein klein wenig mit ihren rosigen Wangen beißt.
»Hey!«, sage ich sanft, weil sie so unschlüssig guckt.
»Hallo«, nuschelt sie, und dann kommt sie doch näher. Ich trete extra zurück, um ihr zu signalisieren, dass sie auch reinkommen darf. Mit gesenktem Kopf geht sie an mir vorbei. Ihr voll bepackter dunkler Rucksack ist übersät mit Patches, Buttons und allerlei Schlüsselanhängern in Form kleiner Stofftiere.
»Zieh die Schuhe aus«, sagt Tante Angelika zu ihr, kaum dass ich die Haustür geschlossen habe. Simone zerrt an den Reißverschlüssen ihrer Docs.
»Wo sind denn die Herrschaften des Hauses?«, fragt Onkel Jochen und behält seine schlammigen Slipper an.
»In der Küche natürlich«, zwitschert Mama. Auf so viel unterkühlte Höflichkeit in der Stimme wäre vermutlich sogar die Königin der Nacht eifersüchtig. An meinem Onkel jedoch prallen die eisigen Spitzen mit einem lautlosen Klirren ab. Grazil wie ein Elefantenbaby trampelt er über frisch gesaugte Teppiche Richtung Wohnbereich, Tante Angelika folgt ihm dicht auf den Fersen. Simone und ich bleiben zurück. Ihre rosa Socken sind bedruckt mit großen Katzengesichtern.
»Und wie geht’s so?«, frage ich, um die peinliche Situation zu überbrücken. Außer zu Weihnachten haben wir nur an den übrigen klassischen Feiertagen Kontakt.
»Ganz okay«, sagt sie und sieht auf ihre rosa Füße.
»Komm, ich zeig dir, wo du deine Sachen lassen kannst.« Ich lächle sie aufmunternd an. Haben sie das Kind verhauen, bevor sie losgefahren sind? Simone guckt jedenfalls so. Ich gehe vor, und sie schleicht hinter mir her.
»Hübsch«, piepst sie, als ich ihr die Schlafcouch präsentiere. Vorsichtig stellt sie ihren ziemlich mitgenommenen Army-Rucksack darauf ab.
»Hm«, antworte ich, weil ich da nicht unbedingt ihrer Meinung bin. Aus der Küche ertönt Onkel Jochens penetrant fröhlicher Bass. Simone setzt sich vorsichtig auf die hässliche Couch.
»Und hier schlafe ich.« Das sage ich, damit sie weiß, dass ihr das Zimmer nicht alleine gehört. Das Holzgestell quietscht, als ich mich auf der Bettdecke niederlasse.
»Okay.«
Gut, das sieht nicht nach Widerstand aus. Sie hat auch bis jetzt noch nicht einmal nach ihrem Handy gekramt. Ich bin ein wenig erleichtert. Stattdessen schielt sie nach dem Berg schwarzer Klamotten, der sich neben dem Bett auf dem Fußboden auftürmt.
»Kannst du gern mal durchgucken«, sage ich zu ihr.
»Gerne!« Simone strahlt und sieht noch jünger aus, als sie sowieso ist. Gerade will sie aufspringen, da ertönt Onkel Jochens Stimme aus der Küche.
»Simone!«
Wir erschrecken uns beide, und Simone verdreht die Augen.
»Ich …«, setzt sie an und deutet mit dem Kopf Richtung Tür.
»Ich komme mit«, sage ich, weil sie mir leid tut. In der Küche versprüht Onkel Jochen so viel gute Laune, dass die restlichen drei Erwachsenen ihre Skepsis bezüglich der Festtagslage nicht zu
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