One Night Wonder
Ein Umstand, der mich gewaltig nervt.
Nachdem ich eine Schneise der Verwüstung in die militärische Aufgeräumtheit meines Kleiderschranks geschlagen habe, finde ich doch noch etwas Passendes: ein chinesisch anmutendes Kleid, tiefrotgrundig, mit aufwändigen Verzierungen und den typischen Stoffknöpfen. Es geht fast bis übers Knie und hat seitlich einen kleinen Schlitz. Dazu packe ich eine blickdichte schwarze Strumpfhose und Lackballerinas ein, ebenfalls schwarz. Das sollte festlich genug sein. Für die restlichen Tage schmeiße ich meine Alltagsklamotten in zwei Reisetaschen. Dann noch Schlafanzug, Pantoffeln, Kosmetik, Schuhe – und natürlich die Geschenke nicht vergessen. Schlussendlich ist es wie immer: Ich bekomme die Reißverschlüsse kaum zu.
Zehn Minuten später schließe ich meine Wohnung ab und schleife zwei halbgeschlossene Taschen zu meinem Auto. Im Radio dudelt abwechselnd I’m driving home for Christmas und Last Christmas, und das auf jedem Sender. Stellt man um, beginnt eins der beiden Lieder oder hört gerade auf. Auf den Autobahnen herrscht Ausnahmezustand, und das liegt nicht nur an Weihnachten. Wieder hat es begonnen, zart zu schneien, und auf den Schnellstraßen fährt der vorbildliche deutsche Autofahrer jetzt konstant 45 km/h. Ich krame nach dem vorsorglich gekauften Röhrchen Baldrian und nehme schon im Auto die erste Tablette. Und das, bevor die Feierlichkeiten überhaupt begonnen haben.
Direkt nach dem Start klebe ich hinter einem majestätisch breiten Mercedes in dezentem Silber, dessen etwa Lenkrad-hoher Fahrer mit Hut weder seinem ABS noch dem modernen Asphalt zu trauen scheint. Er bremst irritiert bei jeder Schneeflocke, die seine ausladende Windschutzscheibe kreuzt. Erwähnte ich bereits, dass ich genervt bin?
Als ich endlich mein Elternhaus erreiche, habe ich das Glück, direkt vor dem Haus einen Parkplatz zu ergattern. Juhu! Kein Taschenschleppen, bis die Hände abfallen. Ich verschließe mein Autolein, und dann sehe ich zuerst nur Grün. Unsere Haustür ist von einer überdimensionalen Tannenranke umrahmt, die den Eingang eher versperrt als verziert. Man muss sich wahrscheinlich ducken, um überhaupt noch ins Haus zu gelangen.
»Du kommst aber spät«, begrüßt mich meine Mutter.
»Es ist elf Uhr morgens«, sage ich.
»Mittags«, korrigiert sie mich, »aber ihr Studenten habt sowieso ein ganz anderes Zeitgefühl.«
Aha, das Fräulein Mutter hat miese Laune, und das schon morgens, äh – mittags. Ich seufze das erste Mal.
»Hallo, Mama.«
Diese Weihnachten wird einiges anders, und ich mag solche Veränderungen nicht.
Oma und Opa sind inzwischen auf großer Reise, doch dafür kommt der Bruder meines Vaters mit seiner Familie. Ich habe bei dem Gedanken noch immer sehr gemischte Gefühle. Normalerweise treffen wir uns am ersten oder zweiten Weihnachtstag, und dann auch nur nachmittags zum Kaffee. Dieses Mal werden sie also die ganzen Feiertage bei uns sein, da sie ja gleich im neuen Jahr nach Spanien auswandern.
Onkel Jochen und Tante Angelika sind meinen Eltern peinlich. Onkel Jochen trägt ein Toupet, so billig, dass es jedermann mühelos als solches identifizieren kann. Tante Angelika hat eine x-mal durchgestufte Bon-Jovie-Mähne in Taillenlänge, mit der sie auf jedem Heavy-Metal-Konzert mächtig Eindruck machen könnte. Doch die beiden haben nicht nur peinliche Frisuren, sie sind auch ziemlich geizig. Es scheint immer, dass sie extra zwei Tage nichts essen, bevor sie uns besuchen kommen. Mama kocht dann immer tonnenweise, um ja nicht mit ihnen ins Restaurant gehen zu müssen, weil sie findet, die beiden sähen aus, wie aus der Altkleidersammlung gezogen.
Die einzig Normale war bisher ihre Tochter Simone, die jetzt aber in der Pubertät steckt. Seitdem kopiert sie meinen Look, indem sie nur noch Schwarz trägt, und Mama hat mal durch die Blume verlauten lassen, dass Onkel Jochen und Tante Angelika deswegen sauer auf mich sind. So viel zum Thema schlechtes Vorbild. Als wenn das Kind in der »Bravo« nicht genug abgedrehte Musiker mit schwarzen Balken um die Augen gesehen hätte. Aber ich bin natürlich schuld. Und genau wegen dieses Gesamtpakets hat Mama jetzt schlechte Laune.
»Hallo, Kind.« Sie küsst mich flüchtig auf die Wange. Sie sagt gerne »Kind« zu mir. Über die tiefenpsychologische Bedeutung bin ich mir noch nicht ganz im Klaren. Doch jetzt will ich erst mal mein Gepäck loswerden. Dabei fällt mir ein, dass wir nur über ein winziges Gästezimmer
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