One Night Wonder
überspielen brauchen.
»Würdest du kurz mal deine Tante und deinen Onkel begrüßen?« Tante Angelikas Mund lächelt, ihre Augen nicht.
»Hallo«, piepst Simone und guckt wieder auf ihre Katzensocken. Mamas Blick gefriert nun endgültig zu einer Maske aus Eis. Sie ist allergisch gegen das Wort »Tante« in Verbindung mit ihrer Person. Ich warte darauf, dass sie Tante Angelika den mühsam angesetzten Fischfond über den Kopf schüttet.
»Hallo, Kindlein!«, begrüßt sie stattdessen Simone. Ich bin »Kind«, Simone ist »Kindlein«. Gut, dass ich keine weiteren Cousinen habe. Papa sagt lieber gar nichts.
»Lilly zeigt euch das Gästezimmer«, höre ich Mama sagen, »dann könnt ihr euch erst mal ein bisschen frisch machen. Natürlich könnt ihr Lillys Bad mitbenutzen.«
Was? Nein! Das geht nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass Onkel Jochen in all seiner Haarigkeit auf meinen Badematten steht, bekomme ich Ekelpusteln, und zwar am ganzen Körper. Ich mache den Mund auf, um zu protestieren, da landet schon die Pranke meines Onkels auf meiner armen Schulter.
»Das ist eine tolle Idee. Lilly, zeig uns den Weg!« Schwungvoll dreht er mich um. Hilfe, ich will nach Hause, in meine eigenen vier Wände. Ich wünsche mir Stille, mein eigenes Bett und Schokolade! Stattdessen werde ich von Onkel Jochen unsanft Richtung Tür geschoben. Noch mal Hilfe!
»Na Lilly, wie geht’s dir so?«, fragt er hinter mir.
»Gut.«
»Wie läuft’s in der Uni?«
»Gut.«
»Wie läuft’s in der Liebe?«
»Gut.«
Dann sind wir am Gästezimmer.
»Bitte«, sage ich und lasse die Tür schwungvoll an den angrenzenden Kleiderschrank knallen.
»Och, ist das schön!« Onkel Jochen guckt, als habe er noch nie zwei bezogene Betten in einem schmucklosen Zimmer mit Spitzengardine gesehen.
»Das sind aber nur zwei Betten«, bemerkt Tante Angelika spitz.
»Simone schläft mit in meinem Zimmer.«
»Och, was ist das schön!« Diesmal knallt Onkel Jochen nicht mir die Hand auf die Schulter, sondern seiner eigenen Tochter. »Simone! Dann kannst du dich die ganze Nacht mit Lilly unterhalten!«
Ja! Super Idee! Hilfe!
Simone entwindet sich Onkel Jochens Griff und Tante Angelika sieht aus, als habe sie soeben in einen sehr sauren Apfel gebissen.
»Und wo ist das Bad?«
Mein Bad. Es ist mein Bad!
»Direkt gegenüber.«
»Ja, dann hol ich mal unser Gepäck.« Mit diesen Worten bewegt sich Onkel Jochen hoch motiviert aus dem Zimmer.
»Ich muss auch noch auspacken«, sage ich in keine bestimmte Richtung und bin schon aus der Tür. In meinem – ehemals – eigenen Reich lasse ich mich auf das quietschende Bett fallen. Ich will nach Hause!
*
Geschlagene vier Stunden habe ich tatsächlich meine Ruhe. Simone hat sich wortlos zu mir gesellt, und gemeinsam haben wir ferngesehen. Ich vom Bett, sie von der Couch aus. Ehrlich gesagt, läuft es besser als erhofft, ihre Gesellschaft ist angenehm. Angenehm, weil wortlos. Ich bin ja bekanntlich ein wenig sprechfaul. Um Punkt vier Uhr reißt Mama die Tür auf, ohne zu klopfen.
»Deckst du bitte den Tisch!« Ihr missbilligender Blick gilt der Tatsache, dass ich im Bett liege. Bei uns liegt man tagsüber nicht im Bett herum, es sei denn, man ist krank oder Schlimmeres. Wir sind eine anständige Familie. Doch apropos krank: Kindlein Simone ist erkältet. Ich hab es ihr beim Atmen schon angehört, und Mama wird es sicherlich auch nicht lange verborgen bleiben. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werde ich mich anstecken. So ist es immer: Hat jemand in meinem Umfeld eine Erkältung, so habe ich sie als Nächste. Ist leider so.
»Ich helfe dir«, sagt Simone und ist schon auf den Füßen, bevor ich mich überhaupt bewegen kann.
»Das ist lieb von dir, Kindlein«, lächelt Mama.
Wieso ist sie nett zu ihr und zu mir nicht? Ich schnaufe missmutig.
»Lilly, gleich, ja?«
»Jaha.«
»Gut.« Weg ist sie. Dass sie immer das letzte Wort haben muss! Ich habe nichts gegen das Tischdecken an sich. Aber warum muss denn immer alles sofort sein? Im Wohnzimmer lagern Onkel Jochen und Tante Angelika auf den Sofas, ebenfalls vor dem Fernseher. Sie gucken einen Shopping-Sender, auf dem in diesem Moment ominöse Haarschneidemaschinen verkauft werden.
Papa bastelt geschäftig an einer ganz offensichtlich funktionstüchtigen Lichterkette herum. Soll heißen, er übersieht ganz geflissentlich, dass Onkel Jochen die Füße auf der Lehne hat, ohne eine Wolldecke darunterzulegen. Das ist bei uns nämlich Pflicht. Mal
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