Oneiros: Tödlicher Fluch
habe ihn zur internationalen Fahndung ausschreiben lassen. Offiziell, als Drahtzieher der terroristischen Vereinigung, die mit den Anschlägen in Verbindung steht«, erklärte er zähneknirschend. »Ich kann es mir nicht mehr leisten, irgendwelche Ressourcen ungenutzt zu lassen, wie Madrid gezeigt hat. Alle Geheimdienste haben strikte Anweisung, mich und mein Team von Spezialisten zu rufen, sobald sie ihn entdecken. Es pfuscht uns hoffentlich niemand dazwischen.«
Konstantin wünschte sich, dass es klappte. Das kleinste bisschen an Aufregung, an Gefühlen, an Panik würde Arctander in einen Schlaf sinken lassen, der wiederum Tausende von Menschen tötete. Oder Zehntausende.
Wie ist er in der kurzen Zeit bloß so stark geworden?
»Gut. Wir reden morgen.«
Jester legte auf und verzichtete sogar auf ein Zitat von seinem geschätzten Oscar Wilde, was kein gutes Zeichen war.
Marna kehrte zurück. Sie hatte die kastanienbraunen Haare unter eine schwarze Kappe gezwängt, trug eine rote Bluse und darüber ein schwarzes Businesskostüm. Der gleiche Parfümgeruch wie gestern breitete sich in der Wohnung aus. »Wir können los.«
Konstantin wies mit der Fernbedienung auf den Beitrag.
Sie keuchte vor Entsetzen leise auf. Ihre Augen verfolgten hektisch das Infoband am Bildschirmrand. »Um Himmels willen!«, stammelte sie. »Das ist … grausam. Die vielen armen Menschen!«
»Sie litten wenigstens nicht«, murmelte Konstantin und ging in die Gästetoilette, um sein Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen.
»Woher wollen Sie das wissen?«, rief sie ihm nach.
Er gab keine Antwort. Die Wahrheit würde sie nicht verstehen, genauso wenig wie sie Iva verstanden hatte.
Während des Flugs wollte er seine Recherchen zum Tod vorantreiben. Ob es was brachte, sich auf Sagen, Märchen und Legenden zu stützen, war eine andere Frage.
Der Tod und der Gänshirt
Es ging ein armer Hirt an dem Ufer eines großen und ungestümen Wassers, hütend einen Haufen weißer Gänse.
Zu diesem kam der Tod über Wasser, und wurde von dem Hirten gefragt, wo er herkomme, und wo er hin wolle?
Der Tod antwortete, daß er aus dem Wasser komme und aus der Welt wolle.
Der arme Gänshirt fragte ferners: wie man doch aus der Welt kommen könne?
Der Tod sagte, daß man über das Wasser in die neue Welt müsse, welche jenseits gelegen.
Der Hirt sagte, daß er dieses Lebens müde, und bat den Tod, er sollte ihn mit hinüber nehmen.
Der Tod sagte, daß es noch nicht Zeit, und hätte er jetzt sonstiges zu verrichten.
Es war aber unferne davon ein Geizhals, der trachtete bei Nachts auf seinem Lager, wie er doch mehr Geld und Gut zusammenbringen möge, den führte der Tod zu dem großen Wasser und stieß ihn hinein. Weil er aber nicht schwimmen konnte, ist er zu Grunde gesunken, bevor er an das Ufer kommen. Seine Hunde und Katzen, so ihm nachgelaufen, sind auch mit ihm ersoffen.
Etliche Tage hernach kam der Tod auch zu dem Gänshirten, fand ihn fröhlich singen und sprach zu ihm: »Willst du nun mit?«
Er war willig und kam mit seinen weißen Gänsen wohl hinüber, welche alle in weiße Schafe verwandelt worden.
Der Gänshirt betrachtete das schöne Land und hörte, daß die Hirten der Orten zu Königen würden, und indem er sich recht umsahe, kamen ihm die Erzhirten Abraham, Isaac und Jacob entgegen, setzten ihm eine königliche Krone auf, und führten ihn in der Hirten Schloß, allda er noch zu finden.
Gebrüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen,
Ausgabe von 1812
[home]
XVI
Verachte den Tod nicht,
vielmehr sieh ihm mit Ergebung entgegen,
als einem Gliede in der Kette der Veränderungen,
die dem Willen der Natur gemäß sind.
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen
Madrid, Spanien
S o ein Mist.
Konstantin wurde aus dem sperrig geschriebenen Märchen nicht schlau. Der Tod tauchte wie in den anderen Märchen wieder als reale Gestalt auf, aber davon abgesehen, brachte ihn diese Geschichte nicht weiter. Die Sache mit dem Wasser, das Jesus-ähnliche, der lebensmüde junge Mann brachten keinerlei Erkenntnisse über die Schnitterringe oder die Möglichkeit, den Tod herbeizurufen.
Die Guten kommen ins Paradies, die Schlechten saufen ab, mit allen, die ihnen folgen und die zu ihnen gehören. Was für eine Überraschung!
Der Airbus brachte sie Kilometer um Kilometer näher an Madrid, während Konstantin über seinem Laptop saß und sich durch die Unmengen von Märchen arbeitete, die er aus dem Internet heruntergeladen oder als E-Book gekauft hatte. Wo man
Weitere Kostenlose Bücher