Oneiros: Tödlicher Fluch
in Millers rechte Augenhöhle. Sie kreischte und schoss ein weiteres Mal nach Kristin, die Kugel ging daneben. Gleichzeitig packte sie die Haarnadel und zog sie heraus. Blut und eine trübe Flüssigkeit sickerten aus der Wunde, rannen die Wangen und das Kinn hinab.
Kristin trat ihrer Feindin die Beine weg und rammte der Gestürzten mehrmals die Fersen gegen Brust, Hals und Kopf, bis sich deren Finger vom Pistolengriff lösten. Sofort warf sie sich auf Miller, packte sie mit einer Hand am Hals und presste die Stirn gegen die Schläfe ihrer Widersacherin. Ihre veränderte Gabe aktivierte sich, ein Kribbeln breitete sich im vorderen Teil ihres Schädels aus. »Ruhig, oder Sie sind gleich tot«, knurrte sie. »Ich mache Sie für den Schnitter sichtbar, und ich wette, er freut sich darauf, Sie zu holen.«
Miller spürte, was Kristin auslöste, und wurde stocksteif. »Es war ein Befehl«, jammerte sie. »Bitte, ich …«
»Von Darling?«
»Ja! Er sagte, dass ich Sie erschießen soll, wenn Sie zu viel schnüffeln.«
Kristin beglückwünschte sich dazu, mit ihrem Ex über Darling gesprochen zu haben. Wenigstens dieses Problem hatte sich bald erledigt. »Was will Darling mit dem Narko?«
»Ich weiß es nicht.«
Kristin verstärkte ihre Gabe, und Miller wimmerte. »Dann sag mir, was du
glaubst
zu wissen!«
»Oneiros«, stotterte sie. »Er hat ein Projekt namens Oneiros initiiert. Er und andere ausgesuchte Todesschläfer basteln daran.«
»Was soll das sein? Wer ist dabei?«
»Wir sind ein gutes Dutzend, die Inder haben wir außen vor gelassen. Projekt Oneiros soll uns mehr Macht und Einfluss sichern«, berichtete sie furchtsam.
»Die Organisationen wissen demnach nichts davon?«
Miller schüttelte den Kopf. »Nein. Timothy sprach mich vor einem Jahr an, ob ich nicht mehr sein wollte als eine Handlangerin. Er meinte, wir machen die Drecksarbeit für unsere Regierungen, ohne wirklich eine Chance gegen Verbrechen oder Korruption zu haben. Er wollte ein drastischeres Zeichen setzen als ein paar gezielte Morde an Gangstern. Etwas, das die Menschheit für immer davon abhält, Verbrechen zu begehen.«
Kristin lachte freudlos. »Darling, der Weltverbesserer? Und dazu braucht er ausgerechnet einen narkoleptischen Todesschläfer?«
Miller hatte die Augen geschlossen, sie keuchte mehr als dass sie atmete. »Es geht darum, sowohl die größten Dreckschweine in der Politik als auch in den Reihen des organisierten Verbrechens zu töten. Der Beweis, dass es niemand mit uns aufnehmen und nichts vor uns schützen kann. Keine Bunker und kein Geld der Welt, keine Gefängnisse, keine Suiten.«
»Und ihr nennt euch Oneiros.« Kristin glaubte der Frau. Es passte zu Darling, dem ambitionierten MI 6 -Agenten, dem es niemals genug war, einen Verbrecher nach dem anderen zu eliminieren. Er wollte
alle,
und er wollte an die Spitze der Todesschläfer.
Gleichzeitig nahm Kristin an, dass er Miller ein Märchen erzählt hatte, um sie auf seine Seite zu ziehen. Die Menschheit durch eine Art Schocktherapie vom Verbrechen abzubringen, war eine schöne Idee, aber auch nicht mehr als das. Es konnte nicht funktionieren. Sie dachte an Mexiko, an die Kartelle. Es würde die Bosse einen Scheiß interessieren, wie viele ihrer Leute krepierten. Und wenn die Bosse selbst draufgingen, krochen neue unter den Steinen hervor.
Kristin hielt abrupt inne, als ihr ein überraschender Gedanke kam: Der einzige Weg, die Menschen ein für alle Mal daran zu hindern, Verbrechen zu begehen, war deren Ausrottung. So verrückt war Darling doch sicher nicht. Doch wie weit reichte Arctanders Todesruf, nachdem man ihn ein oder zwei Jahre lang Tag um Tag mehrmals von einem narkoleptischen Anfall in den nächsten gejagt hatte?
»Kann ich bitte aufstehen?«, fragte Miller erstickt. »Mein Auge …«
»Ruhe.« Sie schauderte. Am Ende würden lediglich Todesschläfer übrig bleiben, die neuen und einzigen Bewohner der Erde. Kristin schüttelte den Kopf. Diese Idee war zu verrückt, zu übertrieben, zu furchtbar. Sicher wollte Darling nur etwas vergleichsweise Harmloses, wie Regierungen durch Arctanders Gabe zu erpressen. Oneiros war vermutlich nichts weiter als eine kriminelle Vereinigung aus Todesschläfern, die richtig Profit aus der Gabe schlagen wollten.
Miller weinte und rührte sich nicht. Ihr verletztes Auge hatte aufgehört zu bluten, aber es tränte unaufhörlich.
Kristin fühlte kein Mitleid, sondern überlegte, wie sie vorgehen sollte. Spürte sie Darling auf
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