Oneiros: Tödlicher Fluch
waren heute nicht verabredet.
Sie aktivierte die Kamera und wartete gespannt darauf, ihren Sohn zu sehen. Und schon entstanden die Züge ihres Eugen auf dem Monitor. »Hey, mein Großer!«, sagte sie freudig zur Begrüßung. »Hat dir Papa …«
»Mama! Ich vermisse dich!«, flüsterte er. So, wie es im Hintergrund aussah, saß er in einer Kiste oder in einem Schrank. »Ich vermisse dich so sehr!«
Sie sah ihm an, dass er aufgeregt und erschrocken war. »Weiß Papa, dass du den Computer hast?«
Er schüttelte den dunkelblonden Schopf.
»Was ist denn los? Ist was passiert?« Ihre Kehle schnürte sich zu, als sie in seine braunen Augen sah und bemerkte, wie verstört er war.
»Papa hat gesagt, dass er nicht möchte, dass wir beide uns sehen«, platzte es aus ihm heraus. »Er hat gesagt, dass du es nicht verdienst, weil du das letzte Mal nicht gekommen bist.« Er fing an zu weinen, Rotz lief ihm aus der Nase. »Und er hat auch gesagt, dass du mich nicht liebhast.«
»Aber nein, nein! Du musst nicht weinen, Eugen. Du hast Papa falsch verstanden«, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Ich wollte ja kommen, glaub mir, aber … das Wetter war schlecht. Mein Jet konnte nicht starten.«
Er nickte schniefend und wischte sich die Tränen mit dem rechten Ärmel weg. »Dann sehen wir uns noch?«
»Sicher, Eugen! Du bist doch mein Sohn. Ich will dich immer sehen, das musst du mir glauben.« Kristin zwang sich zu einem Lächeln, während sie vor Angst und Wut die Finger in die Tischplatte krallte. »Wann hat Papa das gesagt?«
»Vorgestern.«
»Zu dir oder …«
Eugen schüttelte übertrieben den Kopf, wie es Kinder gerne taten. »Nein. Am Telefon. Zu einem Mann, den er Tujev genannt hat.«
»Ach so. Nein, das war Tugurjev. Ein alter Freund von Papa. Die haben bestimmt über etwas anderes geredet.« Kristin hätte ihn unglaublich gerne in den Arm genommen, ihn gehalten und gestreichelt, damit er seine Furcht verlor.
Nur brauchte sie im Moment eigentlich auch jemanden, der ihr die Angst nahm. Beim Namen Tugurjev war ihr beinahe das Herz stehengeblieben: ein Anwalt, der beste, den man in Russland bekommen konnte und der dazu noch viele Richter persönlich kannte. Die Verfahren, die er führte, endeten stets mit der Niederlage seines Gegners. Anscheinend wollte Anatol seinen Kumpel auf sie hetzen. Sorgerecht. Besuchsverbot. Trennung. Endgültig. Sollte Anatol mit dem Kleinen untertauchen, fände sie ihn niemals wieder.
»Dann stimmt es nicht, Mama?«, vergewisserte Eugen sich nochmals.
»Nein, mein Großer. Wir treffen uns. In zwei Wochen ist es wieder so weit.« Sie musste ihre eigenen Tränen unterdrücken, als sie ihn vor Glück lachen sah. »Dann fliegen wir eine Runde mit dem Jet. Du darfst ihn auch mal lenken.«
»Toll!« Er klatschte in die Hände, dann legte er einen Zeigefinger an die Lippen und machte sich in seiner Kiste klein.
Das Mikrofon übertrug die Geräusche aus Eugens Welt zu ihr. Sie vernahm die Stimme ihres Ex-Manns, der nach Eugen rief, hörte die Schritte der schweren Schuhe, die er trug. Er ging an dem Versteck vorbei.
»Er ist weg«, flüsterte Eugen und grinste. »Das ist unser Geheimnis, Mama.«
»Ja. Das ist es.« Kristin winkte ihn mit dem Zeigefinger nach vorne, und auch sie näherte sich der Kamera. »Wir spielen Papa noch einen Streich.«
Eugen grinste. »Au ja!«
»Ich schicke ein paar Freunde von mir zu dir. Sie werden so tun, als würden sie dich entführen, aber in Wirklichkeit bringen sie dich zu mir. Wenn es losgeht, musst du brav sein und alles tun, was sie sagen. Versprichst du mir das?«
»Ja, das mache ich.« Eugen sah ernst in die Kamera. »Aber das wird Papa nicht gefallen. Und den Leibwächtern auch nicht.«
Kristin winkte ab. »Ach, die! Die wissen Bescheid. Ich habe sie eingeweiht, und sie haben wie meine Freunde Platzpatronen geladen, damit es richtig echt aussieht. Mein Freund heißt Brian. Du bleibst bei ihm, wenn ihr spielt, ja? Und du darfst mit niemandem darüber reden. Hast du das verstanden?«
Eugen nickte begeistert. Der Gedanke, bei einem ungefährlichen Abenteuer dabei zu sein, das gefährlich tat, gefiel ihm. »Wann spielen wir denn?«
»Das darf ich nicht verraten. Es soll auch eine Überraschung für dich sein.« Kristin gab der Kamera einen Kuss. »Und jetzt raus mit dir. Und sag Papa nichts«, schärfte sie ihm nochmals ein.
Eugen gab ihr ebenfalls einen virtuellen Kuss und beendete die Verbindung, noch bevor sie ihm sagen konnte, dass er den
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