Oneiros: Tödlicher Fluch
ihren, um sie erneut zu beatmen. Da bewegten sich Marnas Lippen. Sie hob den Arm und berührte ihn an der Schulter.
Sofort richtete Konstantin sich auf und lächelte sie an. »Da sind Sie ja.«
Sie hustete und hielt sich die Seite. Furcht stand in ihren Augen, sie blickte ihn verstört an und versuchte zu begreifen, was mit ihr geschehen war. »Ich …« Marna hustete wieder und versuchte, auf die Beine zu kommen. »Korff …« Konstantin trug sie behutsam zum Sofa, legte sie ab und stützte sich an der Wand ab, als er selbst wankte. Er ging langsam zu einem der Spinde, um Wasser zu holen.
Der gebrochene Finger tat weh, der Mittelfinger nicht weniger, wo Harlekin’s Death saß. Konstantin erging es wie nach zehn versoffenen Nächten, er sah gelegentlich Sternchen und Doppelbilder. Sein Kreislauf machte ihm unmissverständlich klar, dass er kurz vor einem Kollaps stand.
Als er zurückkam, saßen Herbst, Sastre und Thielke schweigend am Tisch. Er stellte die Wasserflaschen auf den Tisch und ließ sich schwer auf den freien Platz fallen. Er bekam seine Flasche kaum auf, und als er trank, rann ihm Wasser über das Kinn, weil seine Hand so sehr zitterte.
Bis auf Arctander saßen sie da, schnauften, tranken, starrten.
»Was war das?«, wisperte Marna, hielt sich die Rippen und stöhnte bei jeder Bewegung. »Was ist eben passiert?«
»Der Tod kam und ging wieder, ohne einen von uns holen zu dürfen. Das mag er nicht«, antwortete ihr Sastre mit der brüchigen Stimme einer Greisin. »Señor Korff, tragen Sie den Ring fortan immer bei sich. Am Finger ist er am besten aufgehoben, ansonsten stets dicht am Körper. Das werde ich Arctander auch einschärfen. Sollten Sie ihn länger als einen halben Tag ablegen und einschlafen …« Sie musste die Augen schließen. »Der Schnitter wird danach schlimmer wüten als je zuvor. Es wird Ihnen so ergehen wie Arctander.«
Konstantin nickte. Sein Mund war trocken, und seine Kehle schmeckte nach Blut und Leichenwasser. Freude wollte sich nicht einstellen, dafür rang er zu sehr um Fassung. Die Bilder der Toten, Herbsts Beinahetod, seine Schwäche. Er sah auf den Ring.
Ich … habe den Fluch überlistet.
Thielke stürzte sein Wasser hinunter und versuchte, sich ein Zigarillo anzustecken. »Ich … habe ihn gespürt«, krächzte er. »Der Schnitter war …« Er schob die Jackenärmel in die Höhe. »Ich dachte, er schlägt nach mir.« Seiner zitternden Hand gelang es nicht, die Flamme lange genug still zu halten, um den Zigarillo anzuzünden. Nach mehren Versuchen gab er es auf. »Sastre, Sie sind ein Wunder.«
Die Ärztin brach ansatzlos in Tränen aus. Schwarzrotes Blut floss aus ihren Augenwinkeln, was Marna zurückzucken ließ. Die blutigen Tränen rollten über das alte Gesicht, tropften auf den Tisch und bildeten kleine Seen. Sie weinte krampfhaft, ihr Körper bebte.
Konstantin nahm sie tröstend in den Arm und hielt sie fest. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin«, sagte er behutsam. »Sie haben mir ein neues Leben gegeben.«
Während er diese Worte sagte, sackte die Erkenntnis endgültig.
Ich bin für ihn sichtbar! Ich bin sterblich! Der Schnitter sieht mich und weiß, wo ich bin.
Dieser Gedanke, der jedem anderen Menschen tiefe Angst eingejagt hätte, brachte ihn zum Lächeln.
Sastre beruhigte sich langsam. Sie löste sich von ihm, und er reichte ihr ein paar Taschentücher, mit denen sie die Tränen wegwischen konnte. »Danke«, wisperte sie erstickt. Die schwarzrote Farbe haftete beharrlich an ihren Wangen, also erhob sie sich und torkelte zum Bad.
»Schön drauf aufpassen.« Thielke steckte dem schlafenden Arctander den Stein in die Hosentasche, damit er ihn nicht verlor, und tätschelte ihm dann die Schulter. »Ich bin wirklich froh«, sagte er, »dass ich meinen eigenen Weg gefunden habe, den Tod zu überlisten.«
Konstantin runzelte die Stirn. »Sie wollen keinen Stein?«
Er schüttelte den Kopf und zeigte ihm den Mittelfinger. »Nachdem ich
das
gesehen habe? Niemals. Ich bleibe bei meinem Trick. Halbhirnschlaf.«
»Ich verstehe kein Wort.« Marna erhob sich schwankend. »Ich brauche frische Luft. Und Sie, Korff, kommen mit und erklären mir, was geschehen ist, verdammte Scheiße! Sonst drehe ich durch!«
»Thielke, Sie achten auf Arctander.« Konstantin stand ebenfalls auf. »Sie haben recht, Frau Herbst. Ich erkläre Ihnen alles, auch wenn ich nicht erwarte, dass Sie mir glauben. Aber alles, was ich sage, entspricht der
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