Oneiros: Tödlicher Fluch
vollkommen anders aus.
Kristin bemerkte die geöffneten grünen Augen des Mannes, die blicklos ins Leere starrten. Aufregung und Freude durchfuhren sie. »Wie lange ist er schon wach?«
»Wir holten ihn gestern aus dem Koma«, antwortete Smyrnikov. »Doktor Willers wird gleich hier sein. Sie kennt die Details.«
»Sie nicht?«, merkte Kristin spitz an.
»Nein, Frau von Windau. Ich kümmere mich um die schweren Fälle.« Er wies mit dem Zeigefinger auf den Mann. »Patient 34 leidet an keinerlei körperlichen Beschwerden, er darf sich nur nicht bewegen.«
Die Tür hinter ihnen öffnete sich, und Willers kam herein.
Sie war von ihrem Alter her schwer zu schätzen, aber sie musste mindestens siebzig sein. Sie hatte bei Doktor White gelernt und seitdem seine Methode verfeinert. Viel wichtiger war noch, dass sie seinen Geist, sein Denken, seine Einstellung weitertrug und in ihrer eigenen Interpretation den jungen Ärzten und Wissenschaftlern in Minsk vermittelte.
Kristin lächelte ihr zu. Sie mochte die Frau, die mit ihren toupierten, dünnen Silberhaaren aussah wie eine gemütliche Oma, mehr als Smyrnikov. Ihr wäre der Fehler mit McNamara nicht passiert. »Ah, die Expertin.«
»Zumindest für 34 .« Willers reichte ihr die Hand. »Wie war das Spiel der
Dinamos?
«
Irritiert sah sie die Ärztin an. »Wie kommen Sie darauf?«
Willers schnupperte geräuschvoll. »Sie riechen nach einer Mischung aus Rauch und Fastfood, und mit dem Pullover, den ich unter ihrem Kittel erkenne, sind Sie zu dick für die Jahreszeit angezogen. Das bringt mich zu dem Schluss, dass Sie im Eisstadion waren.« Sie grinste.
Kristin erwiderte das Lächeln. »Die
Dinamos
haben sich gut gehalten, das muss man ihnen lassen.« Sie schätzte den wachen Verstand der Ärztin, der mit dafür sorgte, dass Patient 34 schon so lange lebte. Länger als alle zuvor. »Bei wie vielen Tagen ist er jetzt?«
»Dreiundsiebzig, davon einundsiebzig im Koma. Gestern und heute ist er wach. Jedenfalls behaupten das die Werte des EEGs. Das Neurofeedback ist eindeutig.«
»Kommunikationsversuche?«
»Bislang keine.« Willers lächelte verhalten. »Das könnte sich ändern, wenn 34 Sie sieht, Frau von Windau.«
»Denken Sie?«
»Die meisten Menschen würden auf den Anblick ihrer Mörderin reagieren, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen«, gab Willers mit süffisantem Tonfall zurück.
Smyrnikov beschränkte sich darauf, die Unterhaltung zu verfolgen und die Werte des Mannes im Auge zu behalten.
Kristin sah zur Plexiglaszelle. »Können wir das riskieren? Nicht, dass wir einen Keim hineintragen, mit dem wir ihn töten.«
Der Professor lachte leise vor sich hin. Als Kristin ihm einen scharfen Blick zuwarf, verstummte er.
»Nein. Sein Immunsystem ist stabilisiert, die Chemotherapie ist lange abgeschlossen. Wir sind sauber genug für ihn, solange wir ihm nicht zu nahe treten. Demnächst werden wir uns sein Gedächtnis vornehmen. Die erste Dosis Propranolol hat er bereits intus, um die Wirkung der traumatischen Erlebnisse zu reduzieren.« Willers machte eine einladende Geste, zog ihren Mundschutz hoch und ging voraus. »Die Rekalibrierung seiner Erinnerung wird funktionieren. Ich studierte die Methode von Elizabeth Loftus und habe einen ihrer Assistenzärzte angeworben. Bald wird Patient 34 uns für seine besten Freunde halten. Sogar Sie, Baronesse.«
Kristin folgte ihr. Smyrnikov blieb draußen, auf die Monitore achtend.
Sekunden darauf standen sie am Bett des Mannes, der unvermindert ins Nichts blickte.
»Wir befeuchten seine Augen dreimal täglich«, erklärte Willers und schien zufrieden. »Sehen Sie das? Keine Entzündungen der Nähte und keine Abstoßungsreaktion. Die Luft ist in der achten Etage scheinbar gesünder als bei Kollege Smyrnikov. Hier stirbt man nicht so rasch.« Sie nahm Kristin am Ellbogen und schob sie nach vorne. »Gehen Sie ruhig näher ran, damit er Sie sieht. Das Mikrofon ist auf die höchste Empfindlichkeitsstufe eingestellt. Ich bin gespannt, was geschieht«, sagte sie und faltete die Hände auf Höhe des Bauchnabels.
Kristin betrachtete Patient 34 . Die dunkle Haut des an vier Schrauben eingespannten Kopfes und des Halses hob sich deutlich von der weißen Farbe des Restkörpers ab.
Überall erkannte sie verheilte Narben, mal klein, mal groß, die größte von allen rings um den Hals. Vier Schläuche liefen unterhalb des Adamsapfels unter die Haut, vier weitere in den Nacken, und ein Venenkatheter lag am Schlüsselbein.
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