Oneiros: Tödlicher Fluch
sie das Radio ein. Nachrichten.
Selbst in Weißrussland verfolgte man das Unglück auf dem Pariser Flughafen. Es gab Neuigkeiten, die für Kristin keine mehr waren: Der Italiener und Immobilienmakler Tommaso Luca Francesco Tremante hatte sich wirklich an Bord von Flug AF 023 befunden und war in einem Pariser Hotel ermordet worden, zusammen mit den zwei Polizisten, die ihn überwachen sollten. Der begeisterte Moderator erging sich in den unterschiedlichsten Theorien, zum Beispiel vermutete er in Tremante einen übergelaufenen Terroristen oder einen Informanten, den seine Komplizen erledigten.
»Jedenfalls war er der Falsche«, murrte Kristin ärgerlich und fischte ein Medikamentenröhrchen aus der Innentasche ihres dünnen Mantels. Sie bemerkte, dass sich zusehends ein Schwindelgefühl ausbreitete. Dagegen gab es etwas. Einhändig öffnete sie den Verschluss, ließ zwei Pillen in den Mund rutschen und schluckte sie trocken. Das Röhrchen legte sie auf den Beifahrersitz.
Kristin war sich bei Tremante sicher gewesen, einen von ihnen geschnappt zu haben. Der einzige Überlebende. Ihr war keine Zeit geblieben, genauere Informationen über Tremante einzuholen und ihn zu beobachten, wie sie es sonst tat. Ins Hotel, prüfen, mitnehmen, so hatte der Plan gelautet. Aber schon sein Verhalten hätte sie stutzig werden lassen müssen. Immerhin hatte noch die Möglichkeit bestanden, dass er seine Fertigkeiten just an diesem Tag zum ersten Mal unwillentlich zum Einsatz brachte. Diese Hoffnung hatte sich jedoch als falsch herausgestellt, und so hatte sie den nutzlosen Italiener ausgeschaltet.
Normalerweise ging sie subtiler vor, inszenierte ein Feuer oder eine andere kleine Katastrophe, aber da sie französische Polizisten umgebracht hatte, musste es schnell gehen. Und das bedeutete leider Aufsehen.
Zu ihrer Erleichterung schien es keinen konkreten Verdacht gegen sie zu geben. Nach dem oder den Mördern wurde gefahndet. Sicherlich war sie bemerkt worden, der Barkeeper würde sich unter Umständen an sie erinnern. Aber da sie sonst keine Spuren hinterlassen hatte …
Weitere Nachforschungen nach dem wahren Verantwortlichen für das Airbus-Unglück hatte sie noch nicht anstellen können. Das Treffen mit Eugen war ihr wichtiger. Außerdem würde sie bald wieder einen von
ihnen
abgreifen. Anwärter auf ihren Besuch gab es noch genug.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Minsker Prachtstraßen hinter sich ließ und in das Netz aus vielen kleinen, dreckigen Straßen voller Schlaglöcher eindrang, die sie zu ihrem Ziel führten: ein Gebäude mitten in der Stadt, das einst zum Medizinischen Institut gehört hatte. Es war alt, aber funktionstüchtig, so dass im Erdgeschoss nach wie vor einige Vorlesungen der Staatlichen medizinischen Universität Minsk stattfanden, für die im Hauptgebäude kein Platz mehr gewesen war.
Die Stockwerke über und unter dem Erdgeschoss gehörten Kristin.
Besser gesagt, gehörten sie dem Institut Leben, einer privaten Klinik für schwer neurologisch Erkrankte, die mit modernsten Geräten untersucht wurden, vom Kernspin-Scanner bis zum Computertomographen. Es gab die Abmachung mit der Regierung, dass der Staat eines Tages sämtliches technisches, millionenteures Inventar übernehmen durfte. Deswegen stellte niemand eine Frage zum Betrieb. Oder zu den genauen Vorgängen.
Kristin stellte den titanfarbenen Mercedes auf ihrem Parkplatz ab, nahm das Röhrchen vom Beifahrersitz und verschloss es, bevor sie ausstieg und das Gebäude betrat.
Der Wachmann sah von seiner Zeitungslektüre auf und nickte ihr zu, ohne sie zu kontrollieren. Jeder wusste, wer sie war.
Kristin erhaschte einen Blick auf die Schlagzeilen, in denen von einem Raubüberfall auf einen Ausländer die Rede war. Sie hätte sich nicht dafür interessiert, wenn der Angestellte nicht versucht hätte, einen Arm über die Zeilen zu legen.
Sie blieb stehen, ging zu dem nervösen Wachmann und ließ sich die Zeitung geben. Sie überflog den knappen Artikel: Ein unbekannter Tourist war erschossen worden, seine Wertsachen geklaut. Das verpixelte Bild des Opfers, das mit einer schlechten Handykamera von einem Augenzeugen geschossen worden war, genügte, um Kristins mäßige Laune vollkommen zu verderben. Jemand hatte besser eine gute Erklärung, wie Ian McNamaras Leiche auf die Titelseite geraten konnte.
Sie warf dem Wachmann die Zeitung zu und betrat den Fahrstuhl. Sie steckte eine Chipkarte in den passenden Schlitz und gab eine Zahlenkombination im
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