Oneiros: Tödlicher Fluch
wusste. Heute. Am besten gleich, sobald sie die Augen aufschlug. Damit nichts zwischen ihnen stand.
Er sah auf den Wecker auf ihrem Nachttisch.
5.32 Uhr. Ob sie Frühaufsteherin ist? Eher nicht.
Er lächelte Iva an und unterdrückte das Gähnen.
Er war es nicht mehr gewohnt, ohne Schlaf auszukommen. Sein Hausboot hatte ihm nach Jahren den unglaublichen Luxus beschert, sich jederzeit hinzulegen und fest zu schlafen.
Das war hier anders. Konstantin befand sich in Ivas Bett, im kleinen Schlafzimmer ihrer Drei-Zimmer-Küche-Bad-Altbaubude im Zentrum von Leipzig. Ohne schützendes Wasser, ohne Kontrolle über die Umgebung.
Vor den kleinen Fenstern erwachte die Stadt. Fahrräder rollten über das Kopfsteinpflaster, Menschen unterhielten sich im hastigen Vorbeigehen, ein Reinigungsfahrzeug drehte eine letzte Runde. Vor ein paar Minuten hatte ein kräftiger Regen eingesetzt, das gleichbleibende Rauschen wirkte einschläfernd. Doch Konstantin durfte nicht nachgeben.
Deshalb stand er vorsichtig auf und zog sich leise an. Er konnte sehr, sehr leise sein.
Früher hatte er
Intermezzi
bevorzugt, wie er sie nannte, kurze Affären, bei denen er sich hinterher aus der Wohnung der Frauen schlich. Es gab klare Absprachen, was sich beide Seiten von den Nächten und dem Zusammenkommen versprachen: Sex. Vor zwei Jahren, mit Beginn seines neuen Lebens als Bestatter und Thanatologe, hatte Konstantin damit aufgehört.
Was tue ich? Sie wecken?
Er stand unschlüssig neben Iva und ging vor ihr in die Hocke. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und sog ihren Nachtgeruch tief ein, dann stahl er sich in die Küche und öffnete das Fenster, um dem fallenden Regen zuzuschauen.
Er würde ihr die Wahrheit sagen. Dieser Entschluss ließ ihn – nach Stunden der Euphorie, des Überschwangs, der erschreckend schönen Emotionen – Furcht empfinden. Sie machte sich in ihm breit, schob das Wundervolle achtlos zur Seite und malte es Grau wie die Hauswand ihm gegenüber.
Wie wird sie es aufnehmen?
Konstantin hätte loslaufen müssen. Loslaufen, weit weg von Iva, der Frau, die ihn faszinierte und ihn in seinem Innersten berührte, um sie hinter sich zu lassen und ihr niemals mehr zu begegnen, genau wie er es sich in Moskau vorgenommen hatte. Bleib weg von den Proben, hatte er sich im Flugzeug immer wieder gesagt. Geh nach Hause, hatte er sich auf dem Weg zum Gewandhaus zugerufen. Kehr um, hatte er im Foyer gemurmelt und sich doch in den Stuhl gesetzt, auf dem er immer saß, um Iva zu sehen.
Das war daraus geworden: eine Nacht voll ehrlichem Gefühl.
Konstantin wollte dieses unvergleichliche Empfinden, diese durch nichts zu ersetzende Zweisamkeit nicht mehr aufgeben. Er wollte Iva nicht aufgeben, allen Ängsten zum Trotz.
Sein Blick senkte sich auf den Unterarm.
Do not fall asleep, until …
Um sich abzulenken, suchte er in ihrer Küche alles zusammen, was man für ein gemeinsames Frühstück brauchte. Wie lange hatte er das nicht mehr gemacht! Nach kurzer Zeit war der Tisch gedeckt, das Teewasser brodelte. Leise nahm er sich ihre Schlüssel sowie einen Schirm und verließ die Wohnung, um zehn Minuten später mit frischen Brötchen zurückzukehren.
Inzwischen war Iva erwacht und erwartete ihn im Flur. Sie trug ein schwarzes, langes Nachtshirt, darüber eine weiße, grobmaschige Strickjacke, die blonden Haare fielen auf ihre Schultern, und sie hatte eine Tasse Tee in der Hand. Die hellbraunen Augen suchten Konstantins Blick. »Für einen Moment dachte ich, du kommst nicht mehr wieder«, sagte sie ruhig und gab den Weg in die Küche frei. Im Vorbeigehen küsste sie ihn, strich ihm über die Brust.
»Dann wäre ich reichlich dämlich.« Konstantin setzte sich.
Iva nahm gegenüber Platz und wühlte in der Brötchentüte. »Du warst bei meinem Lieblingsbäcker!« Sie wählte ein Körnerbrötchen und schnitt es auf. »Versuch die mal. Die sind unglaublich lecker.« Bevor sie begann, es zu belegen, goss sie ihm Tee ein. »Du bist mein Held. Wenn ich überlege, wie viel Zeit wir vergeudet haben, weil sich keiner traute, den anderen anzusprechen.«
Er sah sie an, lächelte nervös, rieb sich über die Tätowierung. Sein Mut hatte sich durch jede kleinste Pore verflüchtigt. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte. Wo. Weil sein Geheimnis unbeschreiblich groß war und weil es starke Gefühle durch die immense Angst erdrückte, die es verbreitete.
Unwirklich ist es noch dazu. Sie wird mich für einen Spinner halten, der zu viele Horrorbücher
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