Oneiros: Tödlicher Fluch
Ableitung und Zuführung. Auf den dunkleren Hautlappen waren Reste von zerschnittenen Tätowierungen zu erkennen: Sanskritsprüche und Symbole.
»Wir haben die Nähte außen entfernt, die Haut von Mister Singh ist mit der von Mister Estevez gut verwachsen«, erklärte Willers hinter ihr, die Maske dämpfte ihre Stimme. »Sie drin zu lassen, wäre nur ein Risiko gewesen.«
»Verstehe.« Kristin winkte mit der Hand vor den Augen des Gefesselten auf und ab, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. »Hallo, Ranjeet Singh«, sagte sie laut und deutlich. »Erinnerst du dich an mich?«
»Herzfrequenz steigt, die Wellen ebenso«, meldete Smyrnikov von außerhalb der Zelle. » 34 erkennt Sie, Frau von Windau.«
Dann bewegten sich die Lippen des Mannes, zuckten. Die geraunten Worte wurden vom Mikrofon aufgenommen, verstärkt, entstört und durch die Box wiedergegeben: »Was hast du getan?«
»Ich? Ich habe dich aufgespürt, überwältigt und nach Minsk gebracht. Den Rest«, Kristin deutete auf Willers, »hat sie erledigt. In meinem Auftrag.«
»Puls 140 und steigend, Blutdruck 140 zu 110 , Achtung«, warnte Smyrnikov. »Nicht, dass wir die neu aufgebauten Synapsen mit diesem Spielchen schädigen.« Er hackte auf eine Tastatur ein. Vermutlich gab er den Geräten den Befehl, Beruhigungsmittel in den Patienten einzuleiten.
Die dunklen Augen des Inders zuckten hin und her, bis sie Kristin fixierten. »Das ist nicht mein Körper«, sagte Singh mit seiner ächzenden Grabesstimme, die durch die Lautsprecher unheimlicher wurde.
»Das ist nicht ganz korrekt.« Kristin winkte die Ärztin näher. »Würden Sie Mister Singh erklären, wie sein Kopf auf den Körper von Mister Estevez gekommen ist? Doktor Willers war eine Schülerin eines der großen Mediziner des vergangenen Jahrhunderts.«
Singh keuchte, mehr nicht. Ein Laut des Entsetzens.
»Mister Singh, ich arbeitete mit Doktor White, dem es 1962 gelang, ein Tiergehirn aus dem Schädel zu entfernen und es am Leben zu erhalten. Zwei Jahre später war ich dabei, wie er ein Hundegehirn in den Nacken eines anderen Hundes einpflanzte und es am Leben erhielt, indem er es an den Blutkreislauf des Trägerhundes anschloss. Es gab ein paar kleinere Rückschläge, doch dann kam die Sache mit dem Affen.« Willers lächelte unter ihrer Maske, wie Kristin an den Augen erkannte. »Wir transplantierten seinen kompletten Kopf auf einen anderen Körper. Wie bei Ihnen, Mister Singh. Damals konnte dieser Kopf ein bisschen mit dem Gesicht wackeln und auf Stimuli reagieren, aber der Affe blieb paralysiert. Leider.«
»Verrückte!«, ächzte der Mann.
»Blutdruck und Puls steigen weiter«, sagte Smyrnikov mahnend. »Ich würde abbrechen.«
»Machen Sie weiter«, forderte Kristin fasziniert. »Erklären Sie ihm, wie wertvoll er ist.«
»Mein Mentor war erfüllt von dem Gedanken, dass Menschen, die nach einem Unfall in einem irreparablen Körper steckten oder zu sterben drohten, durch eine Transplantation in einen anderen Leib ihr Leben zurückerhalten könnten«, referierte Willers voller Begeisterung. »Ein Hirn in einem Spenderkörper. Die eigenen Kinder aufwachsen sehen, Familie, Job, Freunde … es wäre ein unglaubliches Geschenk!«
»Sie können sich vorstellen, dass sich Doktor White mit seinen Experimenten wenig Freunde machte«, ergänzte Kristin.
»Offiziell. Inoffiziell gab es genug Förderer«, fügte Willers hinzu. »Die Regierung der USA bat mich, seine Forschung fortzuführen und vor allem mit den in der Zwischenzeit gemachten Entdeckungen auf anderen Forschungsfeldern weiterzuentwickeln. Nehmen wir die Verbindung des Kopfes mit der Fremdwirbelsäule. Eine mechanische Fixierung und eine Versteifung sind kein Problem. Aber wie verhindere ich, dass der Empfänger gelähmt bleibt? Was in diesem Fall
Sie
wären, Mister Singh.«
»Nein«, stöhnte er und riss die Augen weiter auf.
»Herzschlag und Blutdruck stabil«, kam es von draußen.
Willers deutete auf die Kabel und Apparaturen im Raum. »Stammzellen, lautet das Zauberwort. Dem Departement of Physical Medicine and Rehabilitation der University of California gelang es, beschädigtes Rückenmark auf diese Weise zu reparieren. Die gelähmten Patienten konnten nach der Behandlung wieder laufen! Und genau das versuchen wir bei Ihnen.«
»Die
Patienten,
von denen Doktor Willers spricht, waren Mäuse«, stellte Kristin klar. »Aber es funktioniert. Lässt man die ethischen Bedenken außer Acht …«
»Das Beste ist, dass vor nicht
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