Oneiros: Tödlicher Fluch
aktivierte sie ihre einzigartige Gabe, das Geschenk der Insomnie.
Über ihrer Nasenwurzel kribbelte es. Das Ziehen breitete sich über den ganzen Schädel aus, sogar hinter ihren Augen fühlte sie das Stechen von Millionen kleiner Ameisen, die durch ihren Kopf wuselten und mit ihren Zangen in ihr Hirn bissen.
Wie genau es funktionierte, wusste sie nicht, aber seit ihr Hirn die ersten Anzeichen der Krankheit zeigte, konnte sie Theta-Wellen auch im Wachzustand erzeugen. Den Tod rief sie damit nicht, das tat sie weiterhin nur, wenn sie tatsächlich schlief. Doch durch einen Zufall hatte sie herausgefunden, dass sich ihre Theta-Wellen mit den Wellen eines Todesschläfers koppeln ließen, sie wurden überlagert, veränderten sich. So machte sie sie für den Tod sichtbar, gab dem Schnitter einen Angriffspunkt gegen die verhassten Menschen, die ihm ansonsten entwischten!
Und eine solche Gelegenheit ließ sich der Gevatter niemals entgehen.
Das Stechen wie von Tausenden Nadeln in Kristins Kopf nahm zu. Der Geruch nach Mais wurde so widerlich durchdringend, dass sie sich zu übergeben drohte. Tausende Nadeln stachen in ihren Kopf, sie stöhnte.
Der Patient schrie plötzlich auf, Speicheltröpfchen sprühten gegen sie. Er versuchte verzweifelt, sich von ihr zu lösen, die Vitalwertanzeigen schnellten abrupt in ungesunde Höhen. Der Mann spürte, dass sein Tod bevorstand. Ein
echter
und unumkehrbarer Tod.
Feuchtheiß und abgestanden brandete sein Schrei gegen Kristin.
Sie umklammerte den kahlen Schädel und hielt den Kontakt, was nicht leicht war, denn der Patient entwickelte in seiner Panik unbändige Kraft, trotz der geschwundenen Muskeln, trotz seines Bewusstseinszustandes. Die Arme ruderten, Krämpfe durchliefen den dürren Leib. Kristin blieb stehen, Stirn an Stirn.
Und endlich erklang das erlösende Maschinenpfeifen. Herzstillstand. Tot.
Damit endete zugleich das Sterben im
Institut Leben
und in Minsk, bevor es in großem Ausmaß beginnen konnte. Kristin überließ dem Schnitter das Leben, nach dem er gegiert hatte.
Keuchend ließ sie den Kopf von Patient 22 los und kotzte auf den Leichnam. Tränen liefen über ihre Wangen, sie bekam kaum noch Luft. Erst nach der dritten Übelkeitsattacke gelang es ihr, ihrem Körper Einhalt zu gebieten.
Hustend taumelte sie auf den Gang, um nachzuschauen, wie sehr der rasende, zornige Tod unter den nichtsahnenden Menschen gewütet hatte.
Dicht an dicht lagen die Leiber im Korridor, in der Notausgangstür und zwischen den Kabinentüren eines Fahrstuhls, die stumpf versuchten, sich zu schließen, sich aufschoben und erneut zusammenfuhren, immer und immer wieder. Umgestürzte Liegen hatten Menschen unter sich begraben; verstreute Akten, heruntergefallene Laptops und zerborstene Flaschen mit Proben und Chemikalien vervollständigten das Bild der heillosen Verwüstung.
Kristin stützte sich am Rahmen der Tür ab und spuckte auf den Boden, um den widerlichen Geschmack im Mund loszuwerden. Ihr fehlte die Kraft, einen ähnlich lauten Schrei wie Patient 22 auszustoßen. So viel Potenzial, einfach vernichtet. Auch wenn die Männer und Frauen aussahen, als würden sie schlafen, waren sie und alles, was sie hier noch hätten erreichen können, ausgelöscht.
Ein Blick in die verglasten Krankenzimmer des siebten Stocks zeigte Kristin, dass die übrigen Todesschläferprobanden noch lebten, während ihre Betten ebenso umringt von Toten waren wie das von 22 . Ungesehen vom Schnitter und damit verschont.
Verdammt!
Einen solchen Betriebsunfall hatte sie unter allen Umständen vermeiden wollen.
Dabei lag der Fehler nicht bei Kristin. Die Mannschaft, die das EEG mit dem klaren Auftrag überwachen sollte, den Mann nicht aus dem Koma erwachen zu lassen und die Hirnströme im Delta-Wellenbereich um ein Hertz herum zu halten, hatte versagt. Nicht sie.
Durch die Tür des Notausgangs traten Gestalten in weißen Schutzanzügen, als müssten sie sich vor einem tödlichen Virus schützen. Vermutlich glaubten sie sogar, dass es so war.
»Frau von Windau«, rief ihr einer zu. »Alles in Ordnung?«
Was sollte sie darauf antworten? »Ich bin okay. Nur eine leichte Übelkeit.« Kristin hustete. »Scheint ein Gasunfall gewesen zu sein. Ich habe Glück gehabt, dass die Lüftung schon das meiste abgesaugt hatte.« Sie ging den Männern entgegen. »Wo ist Professor Smyrnikov?«
»Im Keller. Wir sollen Sie zu ihm bringen und danach hier oben aufräumen«, antwortete der Mann und nahm sie stützend am
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